Aldebaran
gelernt hatte. Sie standen mitten in den Wirren des Lebens. Mit einer Kraft, Unbefangenheit und Aufrichtigkeit, die ihr neu waren. Sie waren anders als Ricardo und seine Leute. Anders als die Kunden, mit denen sie jeden Abend zu tun hatte. Sie verstand nichts von Männern, dachte sie, als Nedim begann, ihr Bein zu streicheln.
Und er?, fragte sie sich. Sie wusste es nicht mehr. Das heißt, doch, sie leugnete nicht, dass es in dem Moment gefunkt hatte, als er sie zum Tanzen in die Arme geschlossen hatte. Richtig gefunkt. Das war mehr als nur die Erregung, die durch den Salsa aufkommt. Konnte man sich beim ersten Blick zu einem Typ hingezogen fühlen, beim ersten Kontakt seiner Hand auf der ihren? Wenn Amina nicht gewesen wäre, hätte sie sich im Habana von Nedim entführen lassen. In irgendein Hotel. Es hatte nicht viel gefehlt, und sie hätte Ja gesagt, als Nedim ihr den Vorschlag gemacht hatte. Nur um zu spüren, wie er ihren Körper davontrug. Die wenigen Male, die sie mit einem Mann geschlafen hatte – und die konnte sie an den Fingern abzählen –, waren enttäuschend gewesen. Die Männer nahmen nur, nie gaben sie ihr etwas. Danach fühlte sie sich seltsam leer. Wie ausgeblutet.
Amina hatte Nedim zum Gockel abgestempelt, der sich rupfen lässt. Sie hatte ihn übertrieben zum Bestellen gedrängt. Wie aus Bosheit. Vielleicht, weil er gut tanzte. Oder weil er und sie selbst gut zusammenpassten? Wie eine alte Eifersucht. Oder eine schlecht verheilte Wunde. Diese Gedanken gingen Lalla durch den Kopf, als sie später in ihrem Bett lag und an Nedim dachte. Sie hatte sich wiederholt gefragt, warum Amina so gehandelt hatte. Nedim war nicht besser und nicht schlechter als jeder andere. Einfacher gestrickt, zweifellos. Auf den ersten Blick hatten sie beide erkannt, wie viel Geld sie ihm abluchsen konnten. »Den solltest du dir vornehmen, den Typ da«, hatte Amina gesagt und auf Nedim gezeigt, der allein tanzte. »Anscheinend echt ein verlorener Seemann.«
Lalla wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Diamantis zu. Sie verstand nicht recht, worauf er hinauswollte. Dennoch spürte sie, dass es im Grunde richtig war, was er sagte.
»Sagen wir, das Mittelmeer ist unser Körper. So weit, so gut. Also, wir haben zwei Augen, um richtig zu sehen, zwei Ohren, um recht zu hören, zwei Nasenlöcher, um besser riechen zu können, zwei Lippen zum Sprechen …«
»Zwei Arme, zwei Beine …«, spottete Abdul.
»Genau.«
»Aber nur ein Glied …«, warf Nedim ein.
»Bravo«, konterte Diamantis. »Wenn wir jemanden brauchen sollten, der sich damit auskennt, bist du der richtige Mann.«
»Warte, warte«, Nedim wurde ganz ernst. »Ich wollte nicht … Nur anmerken, dass wir nur ein Glied haben, nicht zwei, und …« Er suchte nach Worten. Er verstand Diamantis’ Ausführungen. Sie gefielen ihm sogar. All das hatte Hand und Fuß.
»Und dieser Körper, was ist er? Mann oder Frau? Man sagt doch: das Meer …«
»Das Mittelmeer ist androgyn.«
»Androgyn?«, fragte Lalla. Sie war nicht wirklich sicher, was das war, aber sie wollte es wissen auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen.
»Jemand, der beide Geschlechter in sich birgt«, bestätigte Abdul.
Er sagte das hart und kalt. Dieses Mädchen war genau so, wie sie aussah. Zum Vernaschen süß, und wie, aber nichts dahinter. Eine dumme Gans. Er trank in einem Zug aus und schenkte sich nach. Er war schon auf Rotwein umgestiegen, während die anderen noch beim Rosé verweilten.
Das Mädchen war vom gleichen Schlag wie Hélène. Sie hatten ihr Hirn im Arsch. Und damit konnten sie sich erlauben, einen zu erniedrigen. Nedim war nur ein armer Trottel und begriff nichts. Je länger Abdul Lalla anschaute, desto mehr verschwamm ihr Bild mit Hélène. Er konnte sie sogar sagen hören: »Schade«, in dem erbärmlichen Englisch eines erbärmlichen Mädchens.
Lalla wurde von Abduls Blick überrascht. Ein harter Blick. Dieser Mann mochte sie nicht. In seinen Augen glänzte eine Art Hass, Hass auf sie. So hatte sie noch keiner angesehen. Unwillkürlich schalteten all ihre Sinne auf Alarm.
»In den slawischen Sprachen und in Latein ist das Mittelmeer sächlich. Im Italienischen maskulin. Im Französischen feminin. Im Spanischen je nachdem maskulin und feminin. Das Arabische hat zwei maskuline Namen dafür. Und das Griechische versieht es in seinen zahlreichen Bezeichnungen mit allen Geschlechtern.«
»Warum eigentlich?«, fragte Lalla.
»Ich weiß nicht. Aber eins glaube ich: dass das
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