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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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ertrug ihren Blick nicht. Als wollte sie sich in seine Gedanken, sein Herz einschleichen. Wenn er nicht aufpasste, das wusste er, würde sie die Oberhand gewinnen, ihr Blick würde dann wirklich dem von Hélène gleichen. Und er würde vor Begierde platzen. Er würde erigieren, ohne etwas dagegen tun zu können. Er wäre nicht mehr als ein Hund, einzig von der Lust besessen, sich zu paaren. Er hasste Hunde. Und Hündinnen. Er dachte an Céphée, mit der er sich gern gepaart hätte. Ein letztes Mal. Wo sie in diesem Moment wohl war? Mit wem? Gerade dabei, sich besteigen zu lassen wie eine Hündin, die sie ja auch war.
    Er kippte einen großen Schluck Wein hinunter und stürzte sich in die kalten Nebel des Ozeans. Als er weitererzählte, tat er es mehr für sich als für die anderen. Nur um sich einzureden, dass dort sein Lebensinhalt lag, weit von allen Küsten entfernt. Der kalte Augenblick des Morgengrauens, wenn man dem starken Seegang des Pazifiks gegenübertreten muss mit seinen gewaltigen Höhen und Tiefen. Wenn das Schiff knarrt wie ein Dreimaster in einer Flaute am Äquator. In dem Moment, in dem jeder Seemann gern überall wäre, nur nicht hier.
    »Wer hat schon mal einen Regenbogen bei Mondschein gesehen?«, fragte er. Sein Blick ignorierte Lalla, streifte knapp Nedim und blieb an Diamantis haften mit der Überlegenheit des Kapitäns gegenüber seinem Ersten Offizier.
    »Nein, noch nie«, gestand Diamantis.
    »Das habe ich mir gedacht. Auf dem Mittelmeer sieht man so etwas nicht.«
    »Und, ist es schön?«, fragte Lalla.
    »Ja, das kannst du dir nicht vorstellen.«
    Treffer, dachte er. Und er sagte sich, dass er es geschafft hatte, er hatte die Kontrolle über das Schiff wieder. Er war wieder der Kapitän der Aldebaran. Der einzige Herr an Bord.

25 Brütende Hitze erstickt jeden Laut, alles keimt, stirbt, modert und fault …
    Die Hitze hatte sie dazu gebracht, sich zu bewegen. In der Messe bekam man keine Luft mehr. Der Zigarettenqualm klebte auf ihrer feuchten Haut. Ihre Augen begannen zu brennen. Lalla hatte vorgeschlagen, das Schiff zu besichtigen.
    »Genau! Deshalb ist sie doch gekommen«, hatte Nedim ermuntert.
    Abdul hatte sie mit Geschichten erschlagen. Er konnte erzählen, das ließ sich nicht leugnen. Man spürte ihn vibrieren wie seine Schiffe in den Wogen des Ozeans. Aber er war noch nicht richtig fertig mit seinen Jahren auf dem Meer. Er schlug vor, auf Deck weiterzumachen.
    Sie stiegen mehr schlecht als recht hinab. Besonders Abdul. All seine Bewegungen waren durch den Alkohol verlangsamt. Er schwankte leicht. Dennoch hielt er sich aufrecht mit straffen Schultern und erhobenem Haupt, wie sein Vater es ihm beigebracht hatte.
    Die Luft stand, und obwohl die Temperatur an die dreißig Grad war, tat ihnen die frische Luft gut. Nur Diamantis war zurückgeblieben. Er wollte schnell einen Becher Nescafé trinken. Der Alkohol machte ihn nervös. Er spürte die Angst in sich. Es war zwanzig nach Mitternacht, und Amina war immer noch nicht gekommen. Er ahnte, dass sie nicht kommen würde. Dass sie überhaupt nicht mehr kommen würde. Dass sie verhindert war. Aufgehalten. Als er seinen Becher Nescafé ausgetrunken hatte, war er wieder nüchtern.
    Und traurig.
    Er hielt die Warterei nicht mehr aus. Die ganze Zeit hatte er es vermieden, an Amina zu denken. Die Mahlzeit hatte geholfen. Aber jetzt hatte er das Gefühl, er müsse sie finden. Vor ihr stehen. Er ging zu den anderen aufs Deck hinunter.
    Wenn Abdul einmal mit seinen Reiseberichten begonnen hatte, konnte er nicht mehr aufhören. Er konnte selbst Wahr und Falsch nicht mehr unterscheiden. Aber das machte nichts mehr aus. Seine Geschichten waren zu Mustern für die Wirklichkeit geworden. Von einer Anekdote zur nächsten suchte er seine persönliche Wahrheit.
    Sie hatten sich direkt aufs Deck gesetzt. Lalla auf das Tauwerk, über das Nedim sein Hemd gebreitet hatte, damit sie sich nicht schmutzig machte. Er hatte sich an sie gelehnt, sein Kopf ruhte auf ihrem Bein. Mit einer flüchtigen, fast schüchternen Bewegung hatte Lalla Nedims nackte Schulter gestreichelt. Sie hatte sein Zucken gespürt. Abdul saß ihnen gegenüber, auf einer alten Kiste. Er thronte etwas höher. Neben ihm stand eine Flasche Rotwein.
    »Kein Hauch bewegte die Luft, ein wenig wie heute Abend, und es war ebenso heiß. Um uns herrschte tiefstes Schweigen. Wer glaubt, dass die Sümpfe und Urwälder Afrikas voll von lärmendem Leben sind, täuscht sich. Die brütende Hitze erstickt

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