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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Mittelmeer ein Körper ist, der in uns wohnt. Und dass unsere linke Hand nicht ignorieren kann, was die rechte tut.«
    Er hielt plötzlich inne. Nachdenklich. Durch den Alkohol verlor er den Faden seiner Gedanken. Warum bloß erzählte er das alles? Was wollte er erklären, beweisen?
    »Ich weiß nicht mehr, was ich sagen wollte.«
    »Du hast von der Odyssee gesprochen. Homers Odyssee«, half Nedim nach.
    »Von Odysseus«, präzisierte Abdul.
    »Ja … Die Odyssee wird immer noch von Taverne zu Taverne weitererzählt, von einer Bar zur nächsten Bar … Und Odysseus lebt immer noch unter uns. Seine ewige Jugend lebt in den Geschichten, die wir uns jetzt, ich meine, heutzutage, erzählen. Wenn wir am Mittelmeer eine Zukunft haben, dann liegt sie in der Richtung.«
    Er brach erneut ab. Das war noch nicht ganz, was er sagen wollte. Es war etwas Präziseres.
    »Das Mittelmeer … das sind Wege. Seewege und Landwege, miteinander verbunden. Straßen, mit anderen Worten Städte. Große und kleine. Sie halten sich alle bei der Hand. Kairo und Marseille, Genua und Beirut, Istanbul und Tanger, Tunis und Neapel, Barcelona und Alexandria, Palermo und …«
    Endlich fand er den Gedanken, der ihn quälte, und die Worte, ihn auszudrücken.
    »In Wahrheit braucht man einen persönlichen Grund, um auf dem Mittelmeer zur See zu fahren.«
    Das war es. Er hatte es gefunden. Einen persönlichen Grund.
    Abdul musterte ihn von oben bis unten. Diamantis redete wie im Fieberwahn. Der fantasierte das Blaue vom Himmel herunter, nur damit man ihm zuhörte. Er wollte fesseln. Im Mittelpunkt stehen. Seit Beginn der Mahlzeit hatte er das Gespräch an sich gerissen. Er, Abdul, war in die Rolle des Statisten gedrängt. Nicht alles, was Diamantis sagte, war verkehrt. Aber er war schließlich der Kapitän, verdammt noch mal. Er hatte auch noch ein Wörtchen mitzureden.
    »Ich …«, setzte er an.
    Die Worte wollten nicht kommen.
    »Ich … Für mich, ja, für mich, ist das Mittelmeer … Für mich ist das Meer nur in der Ferne schön. Hinter Gibraltar. Der Ozean …«
    »Und was ist Ihr persönlicher Grund?«, fragte Lalla Diamantis.
    »Zu mir selbst zu finden, denke ich.« Er dachte an einen Ausspruch seines Vaters. »Die zerrissene Seele des Menschen sucht einen Ort, wo die Gegensätze eins sind. Man geht verloren, wenn man nicht weiß, wer man ist.«
    »Der Ozean«, fiel Abdul ihm lautstark ins Wort. Er wusste selber nicht, was er eigentlich erzählen wollte. Nur, dass er die Unterhaltung wieder an sich reißen wollte. Verdammt noch mal! Was waren das hier für Zustände? Die reinste Anarchie! Er war hier der Kapitän. Man schuldete ihm Aufmerksamkeit. Erzählen, was das Meer wirklich war. Was Abenteuer war. Nicht diese erbärmliche Geschichte von diesem Odysseus, der in dem Netz gefangen war, welches das Mittelmeer, diese giftige Spinne, um die Männer webt. Die giftige Spinne war Penelope. Sie hatte ihn am Haken, diesen Jammerlappen. An dem sie ihn zurück nach Hause zog, sobald es ihr passte. Ob in Circes Armen oder Calypsos Bett – Odysseus war an Penelope gebunden. An sein alltägliches Einerlei. Ans häusliche Leben. Der Ozean befreite von den Spinnenfrauen. Von Penelope und Céphée.
    Der Ozean, das Abenteuer.
    »Das Meer ist nur in der Ferne schön«, wiederholte er theatralisch.
    Es gab noch mehr Frachter. Er hatte sein Leben noch vor sich. Niemals würde er irgendeiner Frau erlauben, ihm seine Zukunft zu diktieren, oder irgendeiner Nutte, »schade« zu sagen. Und diese Lalla täte besser daran, ihren hübschen Mund zu halten.
    Sie musterte ihn. Worunter wohl dieser Mann so litt? Sie sah ihn mitfühlend an wegen dieses Übels, das er in sich trug und das sie nicht kannte. Aber sie wusste, dass jeder sein Stück Unglück mit sich herumschleppt. Sie vier wie alle anderen auch.
    Aber das war es nicht, was Lalla im Leben Angst machte, es war die Unfähigkeit, das Unglück zu bezwingen. Ihre Unfähigkeit war, dass es ihr nicht gelang, den Worten Mutter und Vater ein Gesicht zu verleihen. Schwindel packte sie, wenn ihre Gedanken in diese Richtung schweiften. Was fehlte Abdul? Was hatte er verloren, dass er so tief in Traurigkeit versank? Sie wünschte sich, dass er freundlich mit ihr reden würde, mit einem Lächeln, wenigstens einem kleinen Lächeln. Seit er dazugekommen war, in seine Uniform verkleidet wie eine Marionette, hatte er sie kein einziges Mal angelächelt.
    Niemanden hatte Abdul angelächelt.
    Was hatte Lalla ihn so anzustarren? Er

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