Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
und Bruce aus dem Auto stiegen, war sie froh, daß sie frische Unterwäsche und eine Zahnbürste mitgenommen hatte. Dann sah sie, wie Bruce eine Reisetasche aus dem Kofferraum nahm, und ihre Selbstzufriedenheit wich einem Gefühl totaler Inkompetenz, noch ehe er die Hecktür wieder geschlossen hatte.
»Ich bin gern vorbereitet«, sagte er, als er die Tasche dem Hoteldiener übergab. »Ich hätte Ihnen sagen sollen, daß wir vielleicht übernachten müssen.«
Am liebsten hätte sie geflucht, aber sie nahm sich zusammen und sagte liebenswürdig: »Das ist schon okay. Ich hatte irgendwie damit gerechnet, daß wir Schwierigkeiten haben würden, und habe selbst auch das Nötigste bei mir.«
»Gut gemacht«, sagte er. »Melden wir uns an, und dann sehen wir, daß wir etwas zu essen bekommen.«
Sie verabredeten, wann sie sich in der Halle treffen wollten, und bezogen dann zwei reizvolle Zimmer an entgegengesetzten Enden des sechsten Stocks. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, ging Janie in das nahe Geschäftsviertel, wo einige Läden noch geöffnet hatten. Sie kaufte sich ein Kleid und ein Paar hübsche Ohrringe und eilte ins Hotel zurück.
Es geht doch nichts über einen schönen, langen Dauerlauf, dachte sie bei sich, während sie ihre Schritte beschleunigte; als sie ins Hotel zurückkam, fühlte sie sich beinahe wieder normal. Sie wusch sich und zog das Kleid an. Dann legte sie die Ohrringe an und betrachtete sich im Spiegel.
»Nicht übel für so eine alte Schnepfe«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild und ging nach unten.
Als sie sich dem Tisch näherte, stand Bruce auf und zog einen Stuhl für sie zurück. »Ich habe mir die Freiheit genommen, eine Flasche Wein zu bestellen, der Ihnen vielleicht schmeckt. Ich habe den Kellner gebeten, sie erst zu servieren, wenn Sie da sind.«
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, erschien be- reits der Kellner mit zwei Gläsern, einer Flasche und einem Korkenzieher. Geschickt vollzog er das übliche Ritual, zeigte Bruce das Etikett der Flasche und zog nach ein paar Drehungen des hölzernen Griffs den Korken. Er goß ein wenig Wein in ein Glas und trat diskret zurück, während Bruce die Blume des Weins prüfte und ihn kostete. Bruce nickte, und der Kellner trat wieder vor und füllte die dunkelrote Flüssigkeit in ihre Gläser.
Janie beobachtete ihn prüfend und neugierig und verglich ihn erneut mit dem Jungen, an den sie sich erinnerte. Sie kam zu dem Schluß, daß der reife Bruce sehr viel eleganter und charmanter war als der unreife. Die Jahre in der wohlgeordneten englischen Gesellschaft hatten ihm ein Verständnis für soziale Formen beigebracht, das den meisten amerikanischen Männern einfach abging. Er hatte gute Manieren, und all seine rauhen Kanten schienen geglättet. Er war wirklich ein überaus attraktiver Mann.
Die Fenster des Speiseraums gingen auf einen nahen Kanal hinaus, und das Licht der untergehenden Sonne glitzerte auf dem langsam fließenden Wasser. Alles, was von ihren Strahlen berührt wurde, glänzte flammend rot, und Janie war fasziniert von der Wärme dieser Farbe. Die Magie des Weins floß aus dem Glas in ihre Adern; mehr als einmal erschien der Kellner unaufgefordert, um ihre Gläser nachzufüllen und dann diskret wieder zu verschwinden. Janie bemühte sich zwar, ihre Schutzwälle aufrechtzuerhalten, doch sie spürte, wie der Streß des langen, anstrengenden Tages allmählich von ihr abfiel, und lehnte sich entspannt zurück. Sie schloß einen Moment die Augen und fühlte sich beinahe heiter. Als sie sie wieder öffnete, stellte sie fest, daß sie Bruce anstarrte. Rasch wandte sie den Blick ab.
Er war neugierig auf sie; das wußte sie zweifelsfrei, und soweit sie es zulassen konnte, fühlte sein unverhohlenes Interesse an ihr sich wunderbar an. Sie wußte, er konnte sich nicht vorstellen, was sie durchgemacht hatte und wie hart sie dabei geworden war, wie schwer es ihr fiel, einen tieferen Kontakt zu ertragen. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem sie ihren Mann beerdigt hatte, ließ Janie den ungeheuren Schmerz das Verlangens nach Berührung an die Oberfläche treten. Da saß sie unter Bruces wohlwollendem Blick, und die Elektrizität des Begehrens prickelte auf ihrer Haut. Dieses eine Mal machte sie keinen Versuch, es zu unterdrücken. Ihre Augen verschleierten sich, und sie biß sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten; sie wollte nicht, daß Bruce ihren emotionalen Aufruhr sah.
Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm, deren Wärme
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