Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
nur ein paar Schildwachen waren zu sehen. Er erkannte eine davon als Mitglied seiner Eskorte nach Windsor, und so saß er ab und ging auf den Mann zu.
»Freund!« rief er grüßend, »guten Tag!«
Die Miene des Mannes hellte sich auf, als er Alejandro erkannte. »Guter Doktor! Es freut mich, daß Gott Euch durch diesen langen und bitteren Winter gebracht hat; was führt Euch in unsere schöne Stadt?«
»Geschäfte mit dem König«, antwortete Alejandro. »Aber warum ist es hier so still? Warum ist niemand da?«
»Ach«, sagte der Mann, »die königliche Gesellschaft ist gestern ausgeritten! Sie bot wirklich einen schönen Anblick, vor allem mit all den Damen. Es war vielleicht die größte Gesellschaft, die ich seit einem Jahr gesehen habe, und unterwegs zur Kathedrale, wegen der Amtseinführung des Erzbischofs zweifellos. Wir hatten hier wenig Aufregendes, von der Pest abgesehen, und das Volk sieht sicher gern einen bunten, prunkvollen Umzug des Königs, um sich aufzuheitern!«
»War Prinzessin Isabella mit ihren Damen auch bei der Gesellschaft?«
»Ja, Herr, das war sie, und mit viel Gepäck!«
Also habe ich sie verpaßt ... ich hin zu spät gekommen , um sie noch hier zu erreichen . »Dann muß ich sofort weiter«, sagte er zu dem Gardisten. »Wo ist der Torwächter? Ich muß den Mann sehen.«
Und nachdem er sich den Weg eingeprägt hatte, denn der Torwächter wollte die kostbare Landkarte auch nicht um den ungeheuren Preis einer Goldmünze hergeben, machte Alejandro sich auf den letzten Teil seiner Reise nach Canterbury.
24
Sarin trug die hölzerne Schachtel mit alten Gegenständen zum Bett. Er setzte sich auf einen Stuhl und balancierte die Schachtel vorsichtig auf dem Schoß. Mit Rücksicht auf sein hohes Alter und seine Zerbrechlichkeit hob er den Deckel sehr langsam und behutsam ab und legte ihn neben seinem Stuhl auf den Boden. Die Schachtel enthielt eine seltsame Ansammlung von Gegenständen, ein scheinbar wahlloses Sammelsurium kleiner Dinge, die scheinbar nichts miteinander zu tun hatten. Sarin nahm eines nach dem anderen heraus und legte sie auf den Nachttisch. Während er ihn ablegte, murmelte er den Namen jedes Gegenstandes vor sich hin, wobei er die auswendig gelernte Liste sorgsam in der richtigen Reihenfolge aufsagte, denn der zuletzt herausgenommene Gegenstand mußte als erster benutzt werden. Er hatte das im Laufe der Vorbereitungen auf diese Nacht viele Male geübt. Als alle Gegenstände am richtigen Platz lagen, betrachtete er sie und überzeugte sich davon, daß er bei der Inszenierung dessen, was er geübt hatte, alles richtig gemacht hatte. »Und nun das Buch«, sagte er zu Carolines schlafender Gestalt. Er stand von seinem Stuhl neben dem Bett auf, der leise knarzte, als er sich von dem Rohrsitz erhob - und schlurfte steif ins Nebenzimmer; er fand den alten Band genau da, wo er ihn gelassen hatte, und trug ihn ins Schlafzimmer. Er hatte die richtige Seite mit der gleichen Feder markiert, die auch seine Mutter zu benutzen pflegte, und achtete darauf, sie nicht herauszuziehen. Er legte das Buch auf den Bettrand und schlug es an der richtigen Stelle auf.
Er las langsam, denn das Kerzenlicht war schwach, und seine Augen hatten sich ihm noch nicht ganz angepaßt. Er hätte sich keine solche Mühe zu geben brauchen, denn er hatte die Anweisungen so gut wie auswendig gelernt, und das Vorlesen war nur noch eine Wiederholung dessen, was er bereits eingeübt hatte. Er wußte, daß er aus Angst so vorsichtig vorging, denn wenn er einmal angefangen hatte, konnte er nicht mehr innehalten. Hör auf, Zeit zu vergeuden, sagte er sich; schau, daß du vorankommst .
»Zuerst die Bänder«, murmelte er zu seiner eigenen Sicherheit. Sie waren mit einem dünnen Zwirnsfaden zusammengebunden. Er löste den Knoten im Zwirn, und die Bänder fielen bündelweise auf die Bettdecke. Sie waren modrig und rochen nach Schimmel, aber der Stoff, aus dem sie vor so langer Zeit hergestellt worden waren, war noch heil und zerfiel nicht, als er die Bänder berührte. Er steckte die Bänder überall an Carolines Nachthemd und die Bettwäsche und lehnte sich dann zurück, um sein Werk anerkennend zu betrachten. Ein Schritt ist vollendet, dachte er. Laut sagte er zu dem Hund: »Komm und schau, Kumpel. Die junge Dame sieht ganz festlich aus. Eines Tages wird sie wieder ein hübsches Mädchen sein, meinst du nicht?«
Doch der Hund erschien nicht an der Seite seines Herrn, wie Sarin erwartet hatte. Vermutlich schläft
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