Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
sich jahrelang über Kontobücher und Register gebeugt hatte. Die beiden Männer sahen sich zum ersten Mal. Trotzdem vermutete der Bischof zu Recht, daß eine noch schwerere Last die Schultern seines Besuchers beugte. Avrams Bewegungen waren unsicher, und seine Stimme zitterte fast. Der gebrechliche Mann, den er da vor sich sah, war nicht das, was der Bischof nach jahrelanger Korrespondenz erwartet hatte.
Bischof Johann von Aragon war Monsignore Johann gewesen, soeben von seiner Heiligkeit Papst Johannes XXII. auf seinen Posten berufen, als Avram Canches gerade in das Geldverleihergeschäft seiner Familie eingetreten war, wie sein Vater ihm befohlen hatte. Er erinnerte sich an die Bitterkeit, die er an dem Tag empfunden hatte, an dem entschieden wurde, daß er nicht seinen er- wählten Beruf ergreifen durfte. »Laß deine Brüder mit den Händen arbeiten«, hatte sein strenger Vater gesagt, während er Avram zu den Hauptbüchern führte. »Deine Hand wird einen Federkiel halten.« Er wußte, das war der Grund, warum er den Bitten seines eigenen Sohnes Alejandro nachgegeben hatte, die Medizin studieren zu dürfen, trotz seiner ernsten Zweifel an der Weisheit dieser Entscheidung. Jetzt begriff er das despotische Verhalten seines Vaters und wünschte sich, er hätte die Kraft gehabt, zu seinem eigenen Sohn ebenso streng zu sein.
Er und Bischof Johann hatten seit jenem Tag Hunderte von Briefen gewechselt, die alle die finanzielle Situation der christlichen Kirche betrafen. In einer Vereinbarung, die ihnen beiden von großem Nutzen gewesen war, hatte Avram garantiert, daß der weltliche Prälat stets das Bargeld haben würde, um die ausgeklügelten Rituale zu finanzieren, die seine Priester vollzogen, und hatte dies mit konsequenter Integrität eingehalten und niemals seiner persönlichen Meinung Ausdruck gegeben, daß Gott sich nicht für die Kleidung eines Mannes oder die Umgebung interessiert, in der er verehrt wird. Er war froh, seinen Zins zu kassieren, und behielt sein zynisches Urteil für sich; nach jahrelanger Verbindung empfand Avram nun eine Art vorsichtiger Wertschätzung für den Prälaten.
Der Bischof hatte eine ähnlich vorteilhafte Meinung von Avram, war allerdings überrascht, einen Mann vor sich zu sehen, der nicht in der Lage schien, seine Geschäfte mit so fester Hand zu führen, wie es immer Avram Canches’ Markenzeichen gewesen zu sein schien. Sie schwiegen eine lange Zeit, beäugten einander, und jeder ging dem spekulativen inneren Bild nach, das er sich jahrelang davon gemacht hatte, wie der andere vielleicht aussehen mochte.
Der Bischof ergriff schließlich als erster das Wort. »Ihr seid nicht, wie ich mir Euch vorgestellt hatte, mein Freund; ich hatte gedacht, Ihr würdet mich überragen; Ihr seid ein mächtiger Geschäftsmann, und ich hätte geschworen, daß Ihr ein Riese seid.«
Der kleine, zerbrechliche Mann antwortete: »Eminenz, vergebt mir, wenn ich Euch enttäusche. Ich kann nur hoffen, daß meine geistigen Kräfte nicht mit den Jahren geschrumpft sind wie mein Körper.«
»Ich habe den Verdacht, daß sie noch immer gargantuesk sind«, lachte der Kirchenmann. »Und jetzt müßt Ihr mir gestatten, Euch eine Erfrischung anzubieten. Eure Reise war lang, und wir sind nicht mehr jung.«
Der Bischof gab einem Akoluthen einen Wink, und ein paar Minuten später kam der junge Mann mit einem verzierten Silbertablett mit Brot, Käsen und Früchten zurück.
Bischof Johann segnete die Speisen auf lateinisch, während Avram ein paar hebräische Worte sprach; ihre Blicke begegneten sich über der Kerzenflamme, als beide gleichzeitig mit ihrer kurzen Andacht fertig waren. Der Bischof füllte aus einem silbernen Weinkrug zwei Becher. Er hielt einen an die Kerzenflamme und genoß die reiche Farbe des Weins in dem durchsichtigen Glas. Er reichte es seinem Gast und sagte: »Nun, Avram, da sind wir also, nach so vielen Briefen endlich von Angesicht zu Angesicht. Ich bin neugierig, Euren Grund für eine so lange Reise zu erfahren.«
Avram, sichtlich nervös, sprach nicht, sondern hantierte mit dem Messer herum, schnitt ungeschickt ein Stück Käse von einem der Laibe auf dem Tablett vor ihm ab. Der Bischof nahm Avrams Unbehagen wahr und spürte eine Chance, einen Vorteil zu erringen, so klein er auch sein mochte, den er in Zukunft gegen seinen Gläubiger verwenden konnte; also drängte er ihn weiter, indem er aufrichtige Besorgnis um sein Wohlergehen heuchelte. »Bitte, Avram«, sagte er, »Ihr wißt
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