Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
letzten Versuch machte, die Krankheit zu überleben. Am Ende sei der Mann in tiefe Verzweiflung gestürzt und unter qualvollen Krampfanfällen gestorben.
Alejandro vergaß für einen Moment sein vorsichtiges Schweigen und fragte den Pilger: »Habt Ihr das mit eigenen Augen gesehen?«
»Nein, Herr, das nicht, ich habe die Geschichte von einem anderen Reisenden aus Messina. Aber ich zweifle nicht daran, daß er die Wahrheit sprach.«
Das tat auch Alejandro nicht; dennoch war die Geschichte nicht der Augenzeugenbericht, auf den er gehofft hatte.
Alle waren nun verstummt und dachten über die erschreckende Schilderung nach, die sie gerade gehört hatten. Der Berichterstatter wandte sich wieder seinem Mahl zu, tauchte sein restliches Brot in Bier und kaute entschlossen. Selbst der normalerweise überschwengliche Hernandez wirkte düster und zurückhaltend. Er erinnerte Alejandro daran, daß sie noch eine lange Reise vor sich hatten und daß es am besten wäre, das verbleibende Tageslicht auszunutzen, um vor Einbruch der Nacht das nächste Dorf zu erreichen. Sie brachen auf und machten sich in raschem Tempo auf den Weg zur Küstenstadt Carbere.
Das tiefblaue Mittelmeer glänzte im letzten Tageslicht; das Geräusch der Wellen, die sanft das Ufer liebkosten, beruhigte die beiden müden Männer; die Hufschläge ihrer Pferde hatten sie nun lange genug gehört. Alejandro hatte das Meer seit seiner Rückreise von der medizinischen Ausbildung in Montpellier nicht mehr gesehen, und sein Anblick war ihm willkommen.
In Carbere hatten sie ihre Wasserflaschen aufgefüllt und gedünsteten Fisch gekauft, der in große Blätter gewickelt war. Nun setzten sie sich bei Sonnenuntergang still an den Strand und genossen ihren Fisch, gefolgt von einem von Hernandez’ zahllosen Brotlaiben.
Im Unterschied zu Hernandez war Alejandro nicht ernüchtert über die Pestgerüchte, sondern unruhig und erregt. Er spekulierte über die Ursachen und machte sich laut Gedanken über die Schwierigkeit, ein solches Leiden zu behandeln.
»Niemals«, sagte er, »auch nicht in meinen Jahren auf der Medizinschule, habe ich von so gräßlichen Symptomen gehört. Sicher sind die Geschichten bei jeder Wiederholung stärker übertrieben worden; ich kann einfach nicht glauben, daß etwas so Entsetzliches einfach aus dem Nichts auftaucht.«
Hernandez hatte in seinen Kriegerjahren viele Fälle von Typhus und Cholera gesehen. »Trotz meiner glorreichen Geschichten«, sagte er traurig zu Alejandro, »ist der Krieg in Wirklichkeit selten glorreich. Die Geschichten helfen mir, das Elend zu vergessen, weil sie die Ehre des Sieges in den Vordergrund stellen; wenn ich mich genausooft an Blut und Pestilenz erinnern sollte, würde ich vor Kummer den Verstand verlieren. Das Schwert der Krankheit kostet ebenso viele Menschenleben wie das Schwert des Feindes.«
Alejandro merkte, daß diese Gedanken schwer auf Hernandez lasteten, denn seine übliche Fröhlichkeit war düsterem Schweigen gewichen. Als die Sonne untergegangen war, stand der alte Krieger auf, sammelte etwas trockenes Strandgras und zündete ein kleines Feuer an, damit sie noch eine weitere Stunde Licht hatten.
Sie schliefen im weichen Sand auf ihren Decken, eingelullt vom Rauschen des Meeres. Alejandro erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen am Horizont glänzten. Vergeblich bemühten sich die Seevögel, den morgendlichen Wellengang zu übertönen; sie kreischten und krächzten, als wollten sie Gott persönlich wecken.
Alejandro beschattete seine Augen gegen das helle Sonnenlicht und sah sich nach Hernandez um. Er fand ihn im kühlen Salzwasser, wo er sich in den Wellen erfrischte. Hernandez winkte ihm wild, er solle auch ins Wasser kommen, und Alejandro rollte schließlich seine Hosenbeine hoch und ging ein Stückchen hinaus; es gefiel ihm, Sand und Wasser zwischen seinen nackten Zehen zu spüren. Er kehrte auf den Strand zurück, zog sich aus und tauchte dann ganz in die Wellen.
Für ein paar Augenblicke waren sie so beide unbekümmert und sorglos; Hernandez schüttelte die verstörenden Erinnerungen an vergangene Kriege ab, und Alejandro fühlte sich sicher wie in der Zeit, als er noch nicht auf der Flucht gewesen war. Keiner von ihnen konnte die gestaltlose Bedrohung, die sich uneingeladen zu ihrem Reisegefährten gemacht hatte, ganz abschütteln. Sie saß ihnen in der Magengrube wie eine nagende, unterschwellige Angst. Beide wußten, daß diese kurze Idyll die Ruhe vor irgendeinem Sturm war, doch der
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