Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
Sturm blieb noch verborgen, war noch nicht bereit, sich zu zeigen.
Der Strand war fest und zum Reiten gut geeignet, und so ritten sie am Wasser entlang, wo es nur möglich war, genossen die kühlen Spritzer der Brandung und kehrten nur auf die Straße zurück, wenn der Strand für die Pferde zu felsig und gefährlich wurde. Sie kamen gut voran; Hernandez hoffte, gegen Abend die Uferstadt Narbonne zu erreichen, denn hinter Perpignan kannte er keine Süßwasserquelle mehr.
In Narbonne erfuhren sie, daß die Krankheit in Genua angelangt war. Alejandro war nicht sonderlich überrascht, daß sie den wichtigsten Handelshafen der Region erreicht hatte. Genua war das ursprüngliche Ziel des Pestschiffes gewesen, und seine verpestete Fracht war mit einer anderen Galeone dorthin befördert worden. Wenige Tage nach der Ankunft hatten einige Mannschaftsmitglieder, die nach der kurzen Reise wieder an Land gegangen waren, die gleichen Krankheitssymptome bekommen wie die Mannschaft des Geisterschiffs. Andere Matrosen und Handelsagenten hatten sich auf anderen Schiffen zu anderen Häfen aufgemacht, unter anderem nach Marseille, und hatten die unbekannte Ursache der Pestilenz mit sich genommen.
Zuerst breitete sich die Krankheit unter den Schiffsruderern aus, und nach und nach wurden sie alle in ihren Ketten sich selbst überlassen, tot oder sterbend. Man erzählte sich eine grauenhafte Geschichte über einen Galeerensklaven, den man tagelang schreien hörte; er flehte, man möge ihn freilassen, denn auf wunderbare Weise war er der Ansteckung entgangen. Doch statt durch die Pest starb er an Wassermangel, umgeben von den stinkenden Leichen seiner Schiffsgefährten, denn keiner wollte an Bord gehen, um das Wasserfaß in seine Reichweite zu stellen.
Alejandro und Hernandez verbrachten die Nacht in der Küstenstadt, da sie einen geeigneten Gasthof mit einem freien Zimmer gefunden hatten. Im Wirtshaus der Stadt drehte sich die Unterhaltung den ganzen Abend um neue Berichte von der Ausbreitung der Pest; kein anderes Thema weckte auch nur annähernd soviel Interesse. Man sprach in gedämpftem und ängstlichem Ton; unter den Bürgern herrschte große Furcht, die geheimnisvolle Krankheit könne auch ihren Bezirk erreichen.
Beim ersten Morgenlicht machten Hernandez und Alejandro, die ihre Vorräte schon am Abend erneuert hatten, sich wieder auf den Weg; irgendwie schien ihre Reise auf einmal dringender. Obwohl sie schon zuvor schnell vorangekommen waren, beeilten sie sich nun noch mehr, denn Montpellier war nur noch einen harten Tagesritt entfernt.
Als die Sonne unterging, trugen die schweißglänzenden Pferde ihre Reiter über die letzte kleine Erhebung zum Tor der alten Klosterstadt, wo Alejandro in seiner Jugend seine Ausbildung erhalten hatte.
»Ich sehe alles wieder so deutlich vor mir«, sagte er zu Hernandez, »obwohl die Stadt sich sehr verändert hat! Jetzt stehen Häuser, wo früher freies Land war, und einige der Straßen sind gepflastert!« Sie ritten in die Stadt hinein, und Alejandro zeigte auf das Haus, wo er bei einer bekannten jüdischen Familie gewohnt hatte. »Vielleicht sollte ich sie begrüßen«, sagte er zu Hernandez. Montpellier war ein Teil seiner Vergangenheit und erinnerte ihn an eine glückliche Zeit seines Lebens; plötzlich spürte er eine unerklärliche Sehnsucht nach etwas Vertrautem.
»Das solltet Ihr besser lassen«, sagte Hernandez nüchtern, »es sei denn, daß Ihr keinen Grund habt, Entdeckung zu fürchten.«
Alejandro wich seinen Blicken aus und ließ die Angelegenheit ohne Entscheidung fallen. Schweigend entfernten sie sich von dem Haus. Ein Stück weiter die Straße hinunter erreichten sie die ersten Gebäude der Universität, und Alejandro geriet sichtlich in Erregung. »Hier kann ein Jude studieren, ohne Mißhandlungen fürchten zu müssen«, sagte er. »Obwohl diese Schule von Priestern ge- gründet wurde. Die Familie, bei der ich wohnte, hielt mich unter strenger Aufsicht, so daß ich bei meinem Aufenthalt wenig mehr getan habe als studieren. Heute bereue ich, daß ich mir nicht die Zeit genommen habe, mehr über diese Stadt zu erfahren.«
Es herrschte geschäftiges Treiben in der Stadt, als sie durch die überfüllten Straßen ritten. Sie wollten unbedingt eine Unterkunft für die Nacht finden und hielten viele Leute an, um sie um Auskunft zu bitten; die meisten waren höflich, aber einige wirkten zerstreut und eilten nach einer kurzen Entschuldigung davon. Alejandros eingerostetes
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