Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
muss einige Dinge für Daddys Behandlung vorbereiten«, sagte sie. Sie gab ihrem kleinen Sohn einen Kuss auf die Stirn. »Du warst sehr tapfer gestern Nacht. Dein Vater wird stolz auf dich sein.«
»Du meinst, er wird mich nicht ausschimpfen?«
Wenn er könnte, würde er das sicher tun, dachte Janie. »Nein, Alex, das wird er nicht tun. Du hast großen Mut bewiesen.«
Als sie den Raum verließ, kämpfte sich Alex aus der Decke und lief hinter ihr her. Er nahm ihre Hand, und sie drehte sich um.
»Ich helfe dir mit Daddy.«
»Alex, das wird sehr anstrengend, und ich muss lauter schwierige Sachen machen …«
»Du kannst es mir doch beibringen, Mom. Ich werde gut aufpassen, ich verspreche es.«
Er sah sie voller Hoffnung an. Sie brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, dass sein Vater sehr lange brauchen würde, um sich zu erholen, ob mit seiner Hilfe oder ohne sie.
»Bitte.«
»Gut, Alex. Ich werde dir alles zeigen. Aber vielleicht sollten wir damit warten, bis es deinem Vater ein bisschen besser geht.«
»Ich will aber jetzt schon etwas lernen.«
Sie sah auf ihren hübschen Sohn hinunter, den Jungen, den sie aus einer anderen Zeit und von einem anderen Kontinent gestohlen hatte. Sie hatte ihn zur Welt gebracht, um eine selbstsüchtige Sehnsucht zu befriedigen, weil sie etwas über den Mann wissen wollte, der er einmal gewesen war, und nur selten fragte sie sich, ob Alejandro oder diejenigen, die ihn einst geliebt hatten, das gewollt hätten, hätten er oder sie die Wahl gehabt.
»Gut«, sagte sie mit weicher Stimme. »Dann lass uns anfangen. Geh und wasch dir die Hände. Das ist immer das Erste, was ein Arzt tun muss.«
Der kleine Junge nickte ernst und lief davon. Seine Mutter sah ihm hinterher und fragte sich, wie es kam, dass er plötzlich so viel größer aussah.
19
Auch wenn die Luft noch frisch war - dieser Apriltag war mild im Vergleich zu jenem - tausend bitterkalte Winter zurück -, an dem Alejandro die Charing Cross Road zum ersten Mal entlanggeritten war. Damals hatte er das gleiche Ziel gehabt, an seiner Seite Adele, die kurze Zeit später die einzige Frau werden sollte, mit der er jemals das Lager geteilt hatte, bis Philomène in sein Leben trat. An jenem stürmischen Novembertag
waren sie im kalten Regen losgeritten, fest entschlossen, eine Hebamme namens Mutter Sarah zu finden. Jetzt ritt er aus einem ganz anderen Grund an denselben Ort. Die Straße hatte sich so wenig verändert, dass Alejandro das Gefühl überkam, er sei in die Vergangenheit zurückgereist. Der Ort übte einen ganz eigenen Zauber auf die Sinne aus, narrte den Verstand mit Nebeln und Lichtern. Der Medicus hatte es seit Langem aufgegeben, die merkwürdigen und unerklärlichen Dinge verstehen zu wollen, die Adele und ihm während ihres Aufenthalts dort widerfahren waren.
Doch vertraut oder nicht - er schien die Straße, die nach Osten zu der Wiese führte, einfach nicht finden zu können. Er hielt sein Pferd an einer Stelle an, an der er sie einen kurzen Moment lang wiederzuerkennen glaubte, aber gleich darauf war die Erinnerung auch schon wieder entschwunden, ohne ihn irgendwohin geführt zu haben. Die Straße, die Lichtung, zwei mächtige Eichen, die Kronen in inniger Umarmung verschlungen - all das schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Die Wiese war inzwischen vielleicht überwuchert; er konnte sich nicht vorstellen, dass irgendjemand es wagen würde, die Ruhe der Pesttoten zu stören, die hier in den finsteren Tagen des Jahres 1349 so hastig begraben worden waren. Damit würde man gewiss den Zorn Gottes auf sich ziehen! Irgendwo in dieser Erde hier lag ein Hemd, das er selbst getragen hatte, als er krank darniederlag. Dieses unbedeutende Stück Tuch konnte bei Weitem nicht die Tausende von Londonern einhüllen, die während des großen Sterbens ihr Leben ausgehaucht hatten.
Er blickte durch die Baumkronen nach oben, um den Stand der Sonne festzustellen. Doch, er hatte die richtige Richtung eingeschlagen. Aber seine Erinnerung ließ ihn beharrlich im Stich; konnte es sein, dass der Zauber des Ortes inzwischen so weit reichte, dass er bereits Besitz von seinen Gedanken ergriff?
Er lenkte sein Pferd dem Wald zu und zwang es durch das dichter werdende Unterholz. Ein Fasan lief ihnen über den Weg
und erschreckte das Pferd, sodass es sich mit einem lauten Wiehern aufbäumte. Alejandro redete dem Tier gut zu, bis es sich wieder beruhigt hatte, und trieb es erneut vorwärts. Und dann tauchte unvermittelt eine
Weitere Kostenlose Bücher