Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
verharrte.
Sieh dir die Farbe seines Urins in dem Beutel an. Merkst du etwas?
Es ist dunkler als das letzte Mal.
Das heißt, er braucht mehr Flüssigkeit. Wir werden die Infusion weiter aufdrehen.
Sie wuschen ihn gemeinsam, prüften gemeinsam seine Vitalfunktionen und drehten ihn gemeinsam auf die Seite, wenn sie die Bettwäsche wechselten. Jeder Handgriff, den Janie machte, wurde für ihren wissbegierigen Sohn eine Lektion. Alex wiederum schaffte es durch eine Willensanstrengung, die seiner Mutter völlig unerklärlich war, seine Trauer und Angst in der Gegenwart des Vaters zu verbergen. Hatte er auch das von ihr gelernt? Wenn, dann war es jedenfalls bloße Nachahmung, denn sie hatte ihm nicht erklärt, wie man sich am Bett eines Kranken verhalten sollte. Hatte Alex auf rätselhafte Weise die Energie und die Härte seiner Mutter erworben, die ihr über die dunklen Stunden hinweghalfen, ihr es aber manchmal auch schwer machten, das Licht zu erkennen?
Sie war hin- und hergerissen, ob sie das für erstrebenswert halten sollte oder nicht.
Kaum hatte er das Krankenzimmer verlassen, wurde er wieder der kleine Junge, der jederzeit über den erbärmlichen Zustand seines Vaters in Tränen ausbrechen konnte, so wie es jedes andere Kind an seiner Stelle getan hätte. Aber in Toms Gegenwart trug Alex Hoffnung zur Schau, ohne zu wissen, was sein Vater davon mitbekam.
Kann er uns hören?
Ich weiß es nicht. Aber meiner Meinung nach sollten wir davon ausgehen.
Zwei Wochen nachdem sie Tom aus dem Wald geborgen hatten, erhob sich Janie mitten in der Nacht von ihrem Feldbett, weil sie nicht schlafen konnte, und trat an die Seite von Toms Bett. Sie fühlte seinen Puls; er schien ihr ein bisschen erhöht. Sein Arm war normal warm, und er zuckte, als sie ihn berührte. Sie beugte sich vor und küsste ihn sanft auf die Wange. Die
Haut an seiner Schläfe roch nach ihm. Als sie dann aber die Decke hob, um sich sein Bein anzusehen, stieg ihr ein anderer, unguter Geruch entgegen.
Im schwachen Kerzenschein sah sie die dunkleren Stellen. Die Maden würden nicht bis in die Tiefen seines Fleisches gelangen, um dort den Wundbrand auszumerzen wie bei dem kleinen Mädchen, das an Diabetes erkrankt war. Toms Entzündung drang nicht an die Oberfläche, um dort sichtbar vor sich hin zu schwären; langsam verbreitete sie sich in Gewebe und Knochen, verbarg sich in jeder Zelle und fraß ihn von innen her auf.
Sie umarmte ihn und legte ihren Kopf an seine Brust.
»Oh, mein Geliebter«, flüsterte sie. »Was sollen wir bloß machen …?«
Konservativ ließ sich nichts mehr tun, es blieb nur noch eine Amputation, da sich die Entzündung festgesetzt hatte. Bis zum Morgengrauen würde Janie nichts unternehmen können, daher legte sie sich mit unheilschwangeren Gedanken wieder auf ihr Feldbett. Die Laken waren eiskalt, und sie zitterte unter der Patchworkdecke. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie in einen unruhigen Schlaf fiel.
Kurz vor Morgengrauen, als es am kältesten war, wachte sie auf. Alex hatte sie am Arm gerüttelt.
»Mom - du musst aufwachen.«
Sie stützte sich auf einen Ellbogen. »Was ist los?«
»Es ist wegen Dad … Er ist ganz heiß«, sagte er leise.
Ohne ein weiteres Wort warf Janie ihre Decke von sich. Bevor sie zu Tom ging, nahm sie Alex in die Arme und hielt ihn einen Moment lang fest. »Hol Kristina«, sagte sie. »Wir müssen eine Familienkonferenz abhalten.«
»Wird er sterben?«
Seine Stimme war ganz kindlich, und es brach ihr das Herz, wenn sie daran dachte, dass seine Kindheit schon bald beendet sein würde. »Nein«, sagte sie. »Aber wir müssen eine Entscheidung wegen seines Beins treffen.«
Als er losrannte und sie ihm hinterhersah, dachte sie, dass an diesem Tag die medizinische Ausbildung ihres Sohnes riesige Fortschritte machen würde. Sie nahm auf einem Stuhl neben Toms Bett Platz und betrachtete ihn, während sie darauf wartete, dass Alex mit Kristina zurückkam.
Es ist nur das Bein, sagte sie sich. Wir können ihm eine Prothese machen.
Aber selbst die beste Prothese ließ nicht das feine Ausbalancieren und die Sicherheit bei den Bewegungen zu, die zu dem Wunder eines intakten funktionierenden Beins gehörten. Und was war mit den Schmerzen - würde er sich den Rest seines Lebens betäuben müssen, nur um sie ertragen zu können?
Nein! Natürlich nicht. Es ist weder sein Herz noch sein Verstand betroffen, sagte sie sich. Er wird derselbe Tom sein, den ich geheiratet habe. Ich werde ihn genauso
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