Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
drehte langsam an dem gekerbten Rädchen, bis sie den Objektträger scharf sehen konnte. Sie blickte in das Okular und erwartete, vor sich die übliche Ansammlung von merkwürdigen toten Zellen zu sehen, als sich plötzlich etwas am Rand ihres Sehfeldes bewegte.
Zuerst hatte sie gedacht, sie litte unter Mouches volantes, was in letzter Zeit häufig vorkam, aber kein Anlass zur Sorge war. Sie bewegte den Objektträger, sodass sich das, was gerade am Rand zu sehen gewesen war, jetzt in der Mitte befand. »Okay«, sagte sie unter ihrer Maske, »zeig mir noch einmal deine kleine Vorführung von eben.«
Es gehorchte und zuckte ein bisschen.
Sie stellte eine stärkere Vergrößerung ein.
»Gut, offenbar lebst du also, dann wollen wir mal sehen, wer du bist.« Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen stellte sie fest, dass sie aufgeregt war; sie war Wissenschaftlerin, und dazu gehörte, dass sie interessanten Dingen auf den Grund ging, egal, wie ekelerregend und tödlich sie auch sein mochten.
Auf dem Objektträger vor ihr befand sich ein lebendes Bakterium, das ihr bekannt vorkam.
»Aber Mr Sam bist du nicht«, flüsterte sie. Fasziniert sah sie zu, wie es die Stadien der Mitose durchlief, aus denen es als zwei getrennte Wesen hervorging.
Es war etwas Neues. Und es stammt von der allerersten Probe, dachte sie überrascht, als sie den Objektträger aus der Klammer zog und beiseitelegte. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert? Sie schrieb einen kurzen Befund in ihr Notizbuch, bevor sie den nächsten Objektträger zurechtschob.
Die nächsten beiden Proben erwiesen sich wie erwartet als langweilig und unauffällig.
Aber die drei folgenden waren alle mit derselben Mikrobenart kontaminiert.
Mit erhöhter Wachsamkeit ging sie die übrigen Proben durch. Als sie schließlich alle angesehen hatte, fing sie noch einmal von vorne an, nur um sicherzugehen, dass sie keinem Irrtum erlegen war, als sie eine Kontaminationsrate von fast siebzig Prozent festgestellt hatte.
Sie deckte eine Glasglocke über das Tablett mit den Proben und legte Gesichtsmaske und Handschuhe ab. Dann schrubbte sie sich die Hände im Laborwaschbecken, bis sie rot waren, und schüttelte das Wasser ab. Bevor sie zurück in die Küche ging, sah sie kurz zu Alex und Sarah hinein und stellte wohl zum tausendsten Mal fest, dass ihr schon allein beim Anblick der beiden das Herz vor Liebe überquoll. Die Kinder arbeiteten unschuldig an ihren Schiefertafeln und sprachen leise miteinander, ohne sie auch nur zu bemerken.
Sie sah kurz nach dem Hühnchen, das in dem holzbefeuerten Ofen langsam Farbe anzunehmen begann und die Küche mit seinem wunderbaren Duft erfüllte. An der Hintertür schlüpfte sie in ihre Stiefel, den Mantel knöpfte sie auf dem Weg nach draußen zu. Als sie über den Hof lief, kam sie an Terry vorbei, der fein säuberlich Holzscheite aufschichtete, damit sie trocknen konnten. Sie winkte ihm zu, und er winkte zurück.
»Wo ist Elaine?«, fragte Janie.
»Sie mahlt Mehl.«
Eine promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin mahlte Mehl. Das muss man sich mal vorstellen, dachte Janie, fand aber eine gewisse Ironie darin, da niemand den Wert ihrer körperlichen Arbeit besser bemessen konnte als Elaine selbst.
»Sag ihr bitte, dass das Abendessen in einer Stunde fertig ist, wenn du sie siehst.«
»Mach ich.«
Tom war sicher bei dem kleinen Kraftwerk und überprüfte,
ob alles in Ordnung war; er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, allabendlich das Camp für die Nacht zu rüsten. Als sie mit knirschenden Schritten über den schneebedeckten Pfad ging, sah Janie durch den Nebel ihres Atems, dass die Sonne langsam unterzugehen begann. In ihrem entrückten Rosa und in ihrer überirdischen Schönheit ging etwas Apokalyptisches von ihr aus.
An jedem anderen Tag wäre Janie einen Moment an dem Aussichtspunkt stehen geblieben und hätte den Anblick genossen. Nach dem Ausbruch der Seuche hatte sie gelernt, diese süßen Momente unerwarteter Schönheit zu genießen - schließlich wurden sie bei weitem von den harten, unerbittlichen Momenten in der neuen Welt in den Hintergrund gedrängt. Aber heute ging sie weiter, weil ihr die Nachricht, die sie überbringen musste, dringend erschien.
Die Tür zu dem kleinen Kraftwerk stand sperrangelweit offen; sie warf einen Blick hinein, aber Tom war nicht zu sehen. Im Schnee vor dem Gebäude sah sie frische Fußabdrücke; sie folgte ihnen und entdeckte ihren Mann, der von einer der zum Windrad
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