Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
Verfügung stand. Sie suchte den Boden nach etwas ab, das sich falten ließ oder wie eine Schale geformt war. Ein großes braunes, geschmeidig aussehendes Blatt, in dem etwas Wasser stand, fiel ihr ins Auge.
Janie zog ihr Messer hervor und beugte sich über den Leichnam. Unter Zuhilfenahme des Blattes packte sie mit der linken Hand einen der dick geschwollenen Lymphknoten und entfernte ihn mit einer raschen Bewegung des Messers in ihrer anderen Hand. Sie legte das Blatt, auf dem das Gewebe lag und sie anstarrte, auf den Boden.
»Ich brauche etwas, um es zusammenzubinden«, sagte sie.
Lany brachte ihr eine lange, grüne Ranke von frischem Bittersüß. »Ich musste immer meine Blumenbeete von diesem Zeug befreien, und ich kann dir versichern, es ist ziemlich zäh.«
»Sehr gut.« Janie nahm ihr die Ranke aus der Hand und wickelte sie mehrmals um das Blatt. »Sieht aus wie ein gefülltes Weinblatt«, sagte sie.
»Ich hoffe, es hält«, erwiderte Lany. »Sonst sind wir beide in Schwierigkeiten.«
»Keine Sorge«, sagte Janie fast bitter. »Wenn es die Pest ist, sind wir beide immun, vergessen?«
Janie hatte die Probe ganz unten in einer ihrer Satteltaschen verstaut und ging jetzt zum Ufer, wo sie ihre Hände schrubbte, bis sie sie vor Kälte fast nicht mehr spürte. Dann stieg sie mit klappernden Zähnen wieder auf ihr Pferd. »Wenn wir unsere dreißig Kilometer heute noch schaffen wollen, müssen wir wohl einen Zahn zulegen.«
»Dann sollten wir vielleicht doch die Straße nehmen«, sagte Lany. »Wir werden dort viel schneller vorankommen. Der Fluss führt uns direkt zur Route 32. Ich schätze, es sind nicht einmal mehr anderthalb Kilometer bis dorthin.«
Sie ritten am Flussufer weiter. Seit sie die Leiche entdeckt hatten, machte es den Eindruck, als seien die Geräusche lauter, die Farben leuchtender, die Gerüche stärker. Janie nahm jedes Knacken eines Zweiges und jeden Vogelschrei überdeutlich scharf wahr. Als sie schließlich die Brücke zur Route 32 erreichten - nach anderthalb Kilometern, so wie Lany vermutet hatte -, lenkten sie ihre Pferde die Böschung hinauf, bis sie am Rand des rissigen Asphalts standen. Lany sah zuerst zum Himmel hoch, dann in beide Richtungen die Straße entlang. »Osten liegt dort«, sagte sie und deutete nach links.
Das Klappern der Hufe auf dem Asphalt schien ohrenbetäubend. »Das macht mich nervös«, sagte Janie. »Ich erwarte ständig, dass ein Auto mit quietschenden Reifen um die Kurve rast. Am liebsten würde ich die Straße wieder verlassen.«
»Ja, es ist wirklich seltsam«, bekannte Lany. Sie sah sich um, ihr Blick wanderte über verlassene Gebäude, die einmal eine geschäftige Einkaufsstraße gesäumt hatten.
Ein Stück weiter die Straße hinunter stießen sie auf eine Ansammlung baufälliger, altmodischer Industriegebäude, wie sie häufig in Neuengland zu finden waren. Direkt am Straßenrand erhoben sich die Mauern eines riesigen Ziegelbaus. Sie ritten in nervösem Schweigen daran vorbei, viel zu nah für ihren Geschmack. Obwohl sie eigentlich so schnell wie möglich aus dem Schatten dieser düsteren Fassade herauswollte, brachte Janie Jellybean auf halbem Weg abrupt zum Stehen.
Lany drehte sich um und sah sie fragend an.
»Psst«, flüsterte Janie. »Hörst du das?«
Lany lauschte angestrengt. »Wasser«, sagte sie.
»Und noch etwas. Ein Knirschen.«
Sie banden die Pferde fest und schlichen sich vorsichtig um die Ecke des riesigen Gebäudes. Als sie an der Rückseite angelangt waren, blieben sie stehen und sahen sich um. Es war offensichtlich, woher das Knirschen stammte.
Es kam von einem nagelneuen, sich rasch drehenden Wasserrad, das von dem dahinrauschenden Wasser eines kleinen Flüsschens angetrieben wurde. Über dem Rad führte ein Steg in das Gebäude, aus dem die Achse des Rads ragte.
Auf dem Steg spielten zwei kleine Mädchen. Gleich darauf trat eine Frau heraus und scheuchte sie zurück nach drinnen, weil sie vielleicht etwas essen oder ihren Mittagsschlaf halten sollten.
Als hätte sich nie etwas geändert.
»Mein Gott«, flüsterte Janie, als die drei in dem Gebäude verschwunden waren. Sie ließ ihren Blick die Mauer emporwandern; es war fünf Stockwerke hoch mit etwa einem Dutzend Fenstern - auf der Seite gab es mindestens doppelt so viele.
»Da drin könnte eine ganze Stadt leben«, sagte sie.
»Vielleicht ist es ja so«, erwiderte Lany. »Vielleicht sollten wir … hineingehen.«
»Nein«, erwiderte Janie sofort. »Wir haben einen
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