Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
sonst werdet auch Ihr darunter leiden.«
Alejandro erwiderte nichts auf diese Ermahnung, es lag in de Chauliacs Natur, ihm Anweisungen zu erteilen, und er fasste es nicht als Beleidigung auf, wie er es vor langer Zeit wohl getan hätte. Er ließ sich erneut auf seinem Stuhl nieder und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Die Erkenntnis, wie ernst seine Lage war, senkte sich über ihn wie die schwärzeste Finsternis. Wieder einmal, dachte er verzweifelt, raubt man mir mein sicheres Zuhause. Wieder einmal muss ich fiehen.
4
»Könnte es nicht einfach eine Anomalie sein?«, fragte Tom. »Ein statistischer Ausreißer?«
Janie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. Als sie es tat, hatte ihre Stimme einen zweifelnden Klang. »Natürlich. Es könnte eine Reihe von Erklärungen geben. Ein gehäuftes Vorkommen von unbekannten Bakterien bedeutet nicht unbedingt, dass ein Problem besteht.«
»Wir sprechen mit Kristina. Gleich nach dem Abendessen.«
Schweigend hingen sie eine Weile jeder seinen Gedanken nach, wie es zwei Leute tun, die sich wegen derselben Sache Sorgen machen. Beide gelangten auf verschiedenen Wegen
zu demselben Ziel, derselben Frage: Ist unser Überleben gefährdet?
Mann und Frau gingen Hand in Hand den Pfad entlang, der zum Haupthaus führte. Sie gelangten zu dem Aussichtspunkt, wo der Sonnenuntergang Janie vorher beinahe zum Stehenbleiben verführt hätte; das letzte Licht des Tages tanzte orange- und goldfarben auf der ruhigen Wasseroberfläche des Sees zwischen den noch immer kahlen Bäumen unten im Tal. Tom hielt Janie an der Hand fest, damit sie stehen blieb.
»Wir müssen zurück«, sagte sie.
»Warte. Lass uns einen Moment lang die Ruhe genießen.«
Er zog sie an sich, und sie lehnte sich gegen ihn. Wärme und ein Gefühl der Sicherheit breiteten sich in ihr aus, vertrieben einen kurzen Moment lang ihre Sorgen.
»Ich frage mich, ob der Sonnenuntergang auch dann noch so schön sein wird, wenn der ganze Schmutz aus der Atmosphäre gefiltert ist«, meinte Tom.
»Wie soll das denn gehen?«
Er sah sie überrascht an. »Keine Busse, keine Autos, keine Kohlekraftwerke.«
»Wer sagt, dass es sie dort draußen nicht noch irgendwo gibt?«
»Du bist eine Träumerin, mein Schatz. Das ist alles verschwunden.«
»Das wissen wir nicht.«
Tom drückte ihre Hand und sagte: »Ich hoffe, du hast recht, und diejenigen, die dort draußen leben, sind freundlich gesinnt.«
Einen Augenblick noch genossen sie den Frieden um sie herum. Dann sagte Janie ganz leise: »Ich fühle mich so winzig, wenn ich hier stehe. Besser gesagt, fühle ich mich seit Jahren winzig, aber in solchen Momenten ist es angenehm.«
»Ja«, sagte Tom. Er legte seinen Arm um ihre Taille. »Winzig im Sinne von Teil des Universums, nicht Teil der Nahrungskette.«
Diese Bemerkung brachte Janie zum Lächeln. »Da du gerade von der Nahrungskette sprichst - es ist ein Huhn im Ofen, wenn man es so nennen darf.«
Sie überließen den Sonnenuntergang sich selbst und gingen rasch weiter.
Kaum waren sie durch die Tür getreten, als Alex um die Ecke gerannt kam und sich auf seinen Vater stürzte, der gerade dabei war, seine Stiefel auszuziehen. Tom fing seinen Sohn auf.
Sarah folgte Alex auf dem Fuße, und Janie legte einen Arm um die schmalen Schultern des Mädchens. Sie betrachtete die verblüffend roten Haare, das Meer von Sommersprossen und das zahnlückige Lächeln.
»Zeig mir deine Grübchen«, befahl sie. Sarah gehorchte, kniff ihre Augen zusammen und grinste breit. Die beiden deutlichen Einbuchtungen auf ihren Wangen zeugten davon, dass sie Caroline Rosows Tochter war.
»Willst du sehen, wie ich meine Zunge rolle?«, fragte das Mädchen aufgeregt.
»Angeberin!«, sagte Alex.
»Das kannst du nicht!«, ärgerte Sarah ihn.
»Na und?«
»Es reicht«, sagte Caroline, die in diesem Moment um die Ecke kam. »Das ist keine Begabung, Sarah, das ist ein vererbtes Merkmal und noch dazu ein völlig nutzloses. Vergiss es. Geh und wasch dir die Hände. Das Abendessen ist gleich fertig.«
Alex streckte ihr die Zunge, die er nicht rollen konnte, heraus. Sarah bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. Dann wandte sie sich an ihre Mutter und sagte: »Wir haben unsere Hände aber schon gewaschen.«
»Dann wäschst du sie noch einmal«, sagte Caroline, »oder du setzt dich in dein dunkles Zimmer, während alle anderen zu Abend essen.«
Alex sah zu seiner Mutter hoch.
»Du auch«, sagte Janie.
Die Kinder liefen murrend davon.
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