Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
Tochter zu sein. Vielleicht solltet Ihr Nachsicht walten lassen.«
»Ja«, sagte sie leise. »Er war ein guter und anständiger Mann, und ich vermisse ihn sehr.«
»Er ist nicht mehr am Leben?«
»Vor etwa fünf Jahren gab es einen schrecklichen Sturm. Ein Baum wurde entwurzelt und fiel auf das Dach unseres Hauses. Ich stand zu dieser Zeit einer Frau in unserer Stadt bei, die in den Wehen lag, und war deshalb nicht da. Glühende Kohlen aus dem Herdfeuer flogen umher, das Strohdach fing Feuer, und er und meine Mutter verbrannten. Jeden Tag empfinde ich Reue, dass wir nicht unseren Frieden miteinander gemacht haben.«
Alejandro streckte die Hand aus und legte sie tröstend auf ihren Arm. »Ihr hättet selbst zugrunde gehen können, wenn Ihr da gewesen wärt.«
»Ich weiß«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Und dafür, dass ich verschont wurde, bin ich Gott dankbar. Aber es geschah so … unvermittelt. Und wenn ich da gewesen wäre, hätte es vielleicht einen anderen Ausgang genommen.«
»Ihr müsst Euch mit Eurer Reue an Gott wenden. Ihr könnt keine solche Last auf der Seele tragen. Das hat Euch de Chau… ich meine, Vater Guy doch gewiss gesagt.«
»Ja, und ich versuche daran zu denken. Aber hin und wieder, mitten in der Nacht, wenn ich weder schlafe noch wache, kann ich die Schreie meiner Mutter hören, wenn die Flammen sie umzingeln …«
»So wie ich in den gleichen Stunden die Schreie derjenigen höre, die ich nicht vor der Pest retten konnte.«
Sie sahen einander an, zwei verwandte Seelen, die schon
einen Teil ihres Wegs durch Finsternis gewandelt waren und noch ein weiteres Stück vor sich hatten, bevor die Sonne wieder für sie scheinen würde.
In Nevers trafen sie erneut zusammen.
»Zumeist wandte ich meine Heilkunde auf Frauen an«, berichtete sie ihm. »Unter meinen Patienten befanden sich auch einige Männer, aber viele trauten mir nicht, nicht einmal die Männer der Frauen, die ich behandelte. Ich konnte es in gewisser Weise verstehen, da es für einen Mann oftmals schwierig ist, sich von einer anderen Frau berühren zu lassen, weil dies nur seiner Gattin zusteht. Aber es ging gut, zumindest für eine Weile; es war ein kleines Dorf, und mein Vater ging seinen Geschäften häufig woanders nach. So konnte ich also ungehindert damit fortfahren. Aber eines Tages, es ist jetzt sechs Monate her, fand das alles ein Ende.«
»Was geschah?«
»Ein Edelmann aus Italien kam auf dem Weg ins Languedoc durch unser Dorf. Wir waren es gewohnt, Reisende zu sehen, aber da es bei uns kein Kloster und keine Taverne gab, machte nur selten einer von ihnen Rast bei uns. Die Frau dieses Mannes war schwanger, sie mochte wohl im sechsten Monat sein. Die Wehen setzten vorzeitig ein, und sie hatte zu bluten begonnen. Eine Frau im Dorf berichtete ihnen von mir, und sie brachten die Edelfrau in meine Hütte. Ich erkannte, dass ihre Zeit gekommen war, auch wenn das Kind in ihrem Leib noch nicht ausgereift sein mochte. Das sagte ich ihrem Gatten, und dass das Kind wahrscheinlich nicht am Leben bleiben würde.«
»Weise Worte«, sagte Alejandro. »Nach sechs Monaten ist es zu früh …«
»Er fand meine Worte gar nicht weise«, sagte sie. »Er bat mich, das Kind aus ihrem Leib zu holen. Er war sehr viel älter als sie und hatte noch keine männlichen Erben. Ich sagte ihm, dass ich dies keinesfalls in Betracht zöge und dass ich
kein Wundarzt sei. Aber damit wollte er sich nicht zufriedengeben.«
»Das verstehe ich nicht. Ein Arzt hat stets das Recht, eine Behandlung zu verweigern.«
»Ich hatte ein junges Mädchen bei mir, als sie zu mir kamen; ich unterwies sie darin, bestimmte Kräuter zu sammeln. Der Mann packte sie und hielt ihr ein Messer an die Kehle und sagte, er würde sie töten, falls ich nicht den Leib seiner Gattin aufschnitt.«
»Abscheulich«, sagte Alejandro leise.
»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was ich am liebsten mit ihm getan hätte. So jedoch verabreichte ich der Frau so viel Laudanum, wie sie vertragen konnte, und öffnete ihr den Leib. Mir blieb keine andere Wahl. Aber ich hatte keine Erfahrung mit derlei Dingen; ich schnitt zu tief, und die Frau starb. Aus der Wunde strömte mehr Blut, als ich jemals zuvor gesehen hatte. Das Kind war ein Knabe, und er atmete, auch wenn er jämmerlich klein war. Das Los der armen Frau schien den Edelmann nicht zu kümmern, dagegen war er außer sich vor Freude über seinen Sohn. Dann begann das Kind zu röcheln, und seine Haut verfärbte sich blau; es
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