Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
brach mir das Herz, sein hilfloses Wimmern zu hören, aber es gab nichts, was ich hätte tun können. Der Knabe war noch nicht einmal eine Stunde alt, da war sein Leben schon vorbei. Als sei das alles noch nicht schlimm genug gewesen, schleuderte der Edelmann das tote Neugeborene auf den Boden. Er scherte sich keinen Deut um die Seele seines Kindes und hatte es nicht taufen lassen. Und so tat ich es, in der Hoffnung, dass Gott das Kind zu sich nehmen würde.
Nach einer Weile kamen einige Männer aus dem Gefolge des Edelmanns, um die Leichen zu holen. Am nächsten Tag kamen andere und brachten mich nach Avignon, wo man mich des Verbrechens anklagte, als Frau Medizin zu praktizieren. Es blieb nicht aus, dass die Kunde von diesem bemerkenswerten Ereignis zu de Chauliac gelangte, und er kam, um sich die Verbrecherin anzusehen. Später gestand er mir, dies wäre ebenso
sehr aus Neugier geschehen wie in Erfüllung seines Amtes, da er das Verbot als veraltet betrachte. Als er mich erkannte, veranlasste er, dass ich unverzüglich seiner Obhut übergeben wurde, ›zur Befragung‹, wie er allgemein erklärte. Den Kardinälen, die Einwände erhoben, versicherte er, er werde dafür sorgen, dass ich eingesperrt bliebe, brachte mich dann jedoch bei den Nonnen unter, bis es Zeit zum Aufbruch war.«
Eine Weile blieb es still zwischen ihnen, während sie die schmerzlichen Ereignisse noch einmal zu durchleben schien. Schließlich sagte sie: »Jetzt ist die Reihe wieder an Euch.«
»Ich führte auf meinen Reisen ein Tagebuch, zumindest bis ich nach England kam«, sagte Alejandro, froh, dem beklemmenden Schweigen ein Ende zu bereiten. »Es war ein Geschenk meines Vaters, eine Art versöhnende Geste wegen Montpellier. Mit meiner Entscheidung, dorthin zu gehen, traf ich auf den gleichen Widerstand wie Ihr. ›Arzt!‹, grollte er, als ich es ihm sagte. ›Und was wird aus unserem Geschäft? Wer wird es einmal übernehmen?‹ Am Ende war es nicht mehr von Bedeutung, weil sein Geschäft zugrunde ging, als ich verbannt wurde. Ich führte dieses Tagebuch getreulich über viele Jahre hinweg.«
»Was ist damit geschehen?«
»Ich verlor es in England. Wir mussten mit solcher Hast aufbrechen, und ich war geschwächt von der Pest …«
»Welch ein Verlust«, sagte sie. »Was habt Ihr darin niedergeschrieben?«
»Überlegungen zu meinen Beobachtungen, versteht sich, und Zeichnungen von Dingen, die mich interessierten - Organe, Knochen, andere Teile des Körpers. Ich notierte den Verlauf meiner Reisen, beschrieb die Menschen, denen ich unterwegs begegnete … ich will nicht behaupten, dass diese Aufzeichnungen für irgendjemanden außer mir selbst von Bedeutung sein könnten. Aber es waren so viele Augenblicke meines Lebens darin festgehalten, meine Reisen, meine Triumphe …«
»Eure Liebe?«
»Ja«, sagte er leise. Er wollte schon hinzufügen, er habe die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder eine solche Liebe zu finden, aber dann ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass das vielleicht nicht länger zutreffen mochte.
Nach drei weiteren beschwerlichen Reisetagen bei Wind und Wetter trafen sie spätnachmittags schließlich in Paris ein. Als sie am Ufer der Seine entlangritten, bestaunte Guillaume mit großen Augen die herrlichen Bauwerke dieser Stadt. Auf dem Fluss wimmelte es von Booten und Barken, an denen sich der Knabe gar nicht sattsehen konnte.
Als sie bei der Kathedrale anlangten, hielt Alejandro sein Pferd an, während die anderen weiterritten.
»Grand-pére, wir werden sie verlieren …«
»Ich kenne den Weg von hier aus recht gut. Ich will, dass du eine Weile zusiehst und zuhörst.«
Sie standen im Schatten von Notre Dame und lauschten den wunderbaren Klängen des Abendgebets. Es war der gleiche anrührende Gesang, der immer wieder in Alejandros Kopf widerhallte, seit er ihn zum ersten Mal vernommen hatte. Regentropfen rannen von Alejandros Hut und Guillaumes Nasenspitze. Dennoch saß der Knabe ganz still und ehrfürchtig da. Nach einiger Zeit wendete Alejandro sein Pferd und ritt weiter, da er zu frieren begann und wusste, dass es dem Knaben genauso ging.
Sie holten die anderen ein, als diese gerade in die Straße einbogen, in der de Chauliacs Haus lag. Es sah noch genauso aus, wie Alejandro es in Erinnerung hatte: ein massives Steingebäude mit einem verwinkelten spitzen Dach, umgeben von einer mächtigen Mauer. Als sie über die vertrauten Pflastersteine des Hofs ritten, verspürte Alejandro das seltsame, aber zugleich
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