Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
geblieben?«
»Ihr spracht von Mères Schwester.«
»Ja. Isabella.« Er berichtete so getreulich wie möglich von den Ereignissen in Canterbury und erklärte Guillaume, dass Isabella seine Mutter nun erneut gefangen hielt.
»Eine böse Schwester!«, sagte der Knabe.
»Ja, und noch mehr als das. Ich weiß, es ist schwer für dich zu verstehen, Guillaume, aber in Königsfamilien quälen sich die Verwandten oftmals, sie töten einander sogar, um die Macht oder den Besitz des anderen an sich zu reißen oder um ihn zu beherrschen. So ist es überall - in Spanien, Frankreich, England -, und deshalb hatten wir keine andere Wahl, als zu fliehen. Wir kamen mit einem Schiff nach Frankreich. Ich entlohnte den Kapitän reichlich, damit er unser Geheimnis für sich behielt, und soweit ich weiß, hat er das auch getan, weil wir lange Zeit nicht verfolgt wurden, und als man uns dann entdeckte, geschah das nur durch einen unglücklichen Zufall. Wir zogen durch ganz Europa, bis wir einen Ort fanden, der uns sicher schien, im Norden von Paris. Dort trat dann dein Vater in unser Leben.«
Guillaume wurde sehr still. Über seinen Vater war bisher wenig gesprochen worden, und er hatte nicht gefragt. Es war, als gehörte Guillaume Karle irgendwie nicht in sein Leben.
»Mein Vater«, flüsterte er schließlich so leise, dass es kaum zu hören war, und saß ganz reglos auf Alejandros Schoß. Als er weitersprach, klang seine Stimme ungeheuer ernst. »Mère war also keine Jungfrau.«
Alejandro lehnte sich ein wenig zurück und bedeckte mit einer Hand seinen Mund, um nicht laut aufzulachen. »Nein«, sagte er dann, »das war sie nicht. Dass ein Kind auf diese Weise geboren wird, kommt nur in den Geschichten der Christen vor. Du hast einen Vater und eine Mutter, und beide sind von
terra firma. Und auch wenn deine Mutter in meinen Augen das Aussehen eines Engels hat, ist sie ein Mensch, wenn auch ein außerordentlicher Mensch. Es ist an der Zeit, dass du sie kennenlernst.«
Der Knabe schlang freudig die Arme um Alejandros Hals, und sie hielten sich eine Weile umarmt. Als sie sich schließlich wieder voneinander lösten, waren ihrer beider Gesichter nass von Tränen.
Alejandro war nicht überrascht, Philomène in der Studierstube im Keller anzutreffen, denn dort wäre er selbst schon längst gewesen, hätte man ihn nicht so eilig zu de Chauliac gerufen.
»Guten Morgen«, sagte sie fröhlich, als er eintrat. Als sie dann jedoch sein ernstes Gesicht bemerkte, wich die Fröhlichkeit aus ihrer Stimme. »Ihr seht bekümmert aus«, sagte sie. »Was betrübt Euch?«
Er blieb einen Moment in der Tür stehen und betrachtete das Werk, an dem sie arbeiteten. Dann blickte er sie an und sagte: »Ihr kennt mich zu gut für die kurze Dauer unserer Bekanntschaft.«
»Selbst einem Fremden könnte die Unsicherheit auf Eurem Gesicht nicht entgehen.« Sie hielt kurz inne. »Es ist also Nachricht aus England eingetroffen?«
»Ja«, sagte er. »Sie bereitet mir Kummer, und zugleich macht sie mich froh. Vielleicht kann ich schon bald meine Tochter in die Arme schließen - eine Freude, die ich mir kaum vorzustellen vermag -, aber um sie zu retten, muss ich all das hinter mir lassen.« Er deutete auf die Seiten, die auf dem Tisch lagen, dann sah er ihr in die Augen. »Und zu meinem allergrößten Bedauern auch Euch.«
»Wie lange werdet Ihr fort sein, falls Ihr das sagen könnt …?«
Er konnte nicht einmal sicher sein, dass er zurückkehren würde, aber das behielt er für sich. »Vielleicht nur fünf oder sechs Wochen, aber ich nehme an, dass es viel länger sein wird.«
Sie legte ihre Gerätschaften zur Seite und nahm seine Hand. »Die Arbeit wird unter Eurer Abwesenheit leiden.«
»Mag sein. Aber das glaube ich nicht. Ich lasse sie in den Händen eines guten Arztes zurück, und damit meine ich nicht den Franzosen im oberen Stockwerk.«
Sie lächelte und wurde rot. »Das ist zu viel der Ehre, Alejandro.«
»Sie gebührt Euch. Ihr werdet die Arbeit vorzüglich fortführen, solange ich weg bin. De Chauliac wird von seinem Krankenbett aufstehen und sich erneut ans Werk machen. Erst wenn er mit seiner unsichtbaren Peitsche hinter Euch steht«, sagte er mit einem leichten Lächeln, »werdet Ihr wissen, wie sehr ich Euch fehle.«
Sie lachte leise und trat noch etwas näher zu ihm. »Ich bin auch so diejenige, die unter Eurer Abwesenheit am meisten leiden wird.«
Mit heftig klopfendem Herzen legte Alejandro die Arme um Philomène und zog sie an sich.
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