Aleph
kennengelernt - wenn man ein derart seltsames Aufeinandertreffen »Kennenlernen« nennen kann. Mein Freund lacht. Ich versuche, ernst zu bleiben.
»Hören Sie, ich habe Sie schon zum Abendessen beim Botschafter mitgenommen. Ich mache diese Reise nicht, um für meine Bücher zu werben, sondern…«
Ich zögere etwas.
»…aus ganz persönlichen Gründen.«
»Das weiß ich.«
Etwas in der Art, wie sie diesen Satz ausspricht, versucht mich, ihr zu glauben. Aber ich entscheide mich, diesem Gefühl nicht zu trauen.
»Viele Männer mussten schon meinetwegen leiden, und auch ich habe schon viel gelitten«, fährt Hilal fort. »Meine Seele fließt über vom Licht der Liebe, aber es kann sich keinen Weg bahnen, denn es wird vom Schmerz aufgehalten. Ich könnte für den Rest meines Lebens jeden Morgen ein- und ausatmen, ändern würde es nichts. Ich habe versucht, diese Liebe mit der Geige auszudrücken, aber das ist nicht genug. Ich weiß, dass Sie mich heilen können und dass umgekehrt ich Sie heilen kann. Ich habe das Feuer auf dem benachbarten Berg entzündet, Sie können auf mich zählen.«
Was wollte sie damit sagen?
»Was uns verletzt, heilt uns zugleich«, fährt sie fort. »Das Leben war sehr hart zu mir, hat mich aber gleichzeitig vieles gelehrt. Auch wenn Sie es nicht sehen, mein Körper ist voller offener Wunden, die die ganze Zeit bluten. Morgens erwache ich mit dem Wunsch, zu sterben, bevor der Tag endet, aber ich lebe weiter, leide und kämpfe, kämpfe und leide, während ich mich an die Gewissheit klammere, dass dies alles eines Tages ein Ende haben wird. Bitte lassen Sie mich hier nicht allein zurück. Diese Reise ist meine Rettung.«
Mein Freund bremst seinen Wagen, greift in die Tasche und gibt Hilal ein Bündel Banknoten.
»Der Zug gehört ihm nicht. Nehmen Sie das, ich glaube, es sollte mehr als genug sein für eine Fahrkarte zweiter Klasse und drei Mahlzeiten am Tag.«
Und zu mir gewandt fügt er hinzu:
»Du weißt, was ich gerade durchmache. Die Frau, die ich liebte, ist gestorben, und auch ich kann den Rest meines Lebens ein- und ausatmen, soviel ich will, ich werde nie wieder wirklich glücklich sein können. Ich verstehe genau, was diese junge Frau meint, wenn sie von offenen Wunden spricht. Ich weiß, dass Sie diese Reise aus ganz persönlichen Gründen machen, aber lassen Sie sie nicht einfach so stehen. Wenn Sie an die Worte glauben, die Sie schreiben, erlauben Sie, dass andere mit Ihnen wachsen.«
»Gut, er hat recht, ich kann nicht darüber bestimmen, wer in diesem Zug reist. Aber Sie, Hilal, sollten wissen, dass ich unterwegs die meiste Zeit von Menschen umgeben sein werde und wenig Zeit für Gespräche unter vier Augen bleibt.«
Mein Freund gibt wieder Gas und fährt eine Viertelstunde lang schweigend. Wir erreichen einen baumbestandenen Platz. Hilal bittet dort anzuhalten, steigt aus und verabschiedet sich. Ich begleite sie bis zur Eingangstür des Hauses, wo sie bei Freunden übernachtet.
Sie küsst mich flüchtig auf den Mund.
»Ihr Freund irrt sich, aber wenn ich mich zu offensichtlich freue, würde er das Geld zurückhaben wollen«, sagt sie lächelnd. »Mir geht es längst nicht so schlecht wie ihm. Übrigens war ich noch nie glücklicher als jetzt, weil ich den Zeichen gefolgt bin und ich Geduld hatte und weiß, dass sich jetzt alles verändern wird.«
Sie dreht sich um und geht ins Haus.
Erst in diesem Augenblick, als ich zum Wagen zurückgehe, meinen Freund ansehe, der ausgestiegen ist, um eine Zigarette zu rauchen, und lächelt, weil er den Kuss gesehen hat; als ich höre, wie der Wind das frische Grün der Bäume bewegt; als mir bewusst wird, dass ich mich in einer Stadt befinde, die ich liebe, ohne sie allzu gut zu kennen; als ich in meiner Tasche ebenfalls nach einer Zigarette suche und daran denke, dass morgen ein Abenteuer beginnt, von dem ich schon so lange geträumt habe - erst in diesem Augenblick…
… erst in diesem Augenblick fällt mir wieder die Prophezeiung des Sehers ein, dem ich im Haus von Veronique begegnet bin. Er hatte irgendetwas über die Türkei gesagt, aber was genau es war, will mir einfach nicht mehr einfallen.
9288
Die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn gehört zu den längsten Eisenbahnstrecken der Welt. Man kann die Reise an jedem beliebigen Bahnhof Europas antreten, in Russland aber verbindet sie auf 9288 Kilometern Hunderte von kleinen und großen Städten miteinander. Sie verläuft durch sechsundsiebzig Prozent des Landes
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