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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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und durchquert sieben unterschiedliche Zeitzonen. Als ich um elf Uhr abends im Bahnhof von Moskau den Zug besteige, ist es in Wladiwostok, dem Ende der Strecke, bereits Tag.
    Bis zum 19. Jahrhundert wagten nur wenige, eine Reise nach Sibirien zu unternehmen, wo in der Stadt Oymyakon einst die niedrigste Temperatur der Erde gemessen wurde: minus 71,2 °C. Die wichtigsten Transportwege, welche die Region mit dem Rest der Welt verbanden, waren zu dieser Zeit die Flüsse, die jedoch acht Monate im Jahr zugefroren sind. Die Bevölkerung Zentralasiens lebte daher praktisch isoliert, obwohl sich dort ein Großteil der Bodenschätze des damaligen Russischen Reiches befand. Aus strategischen und politischen Gründen genehmigte Zar Alexander 11. den Bau der Bahn, deren Kosten nur noch vom Budget des Russischen Reiches für den Ersten Weltkrieg übertroffen wurde.
    Während des Bürgerkrieges, der kurz nach der Russischen Revolution 1917 ausbrach, stand die Transsibirische Eisenbahn im Zentrum der Auseinandersetzungen. Die dem vormaligen Zaren ergebenen Truppen, vor allem das Tschechoslowakische Korps, benutzten mit Metallplatten verstärkte Waggons, die als Panzer auf Schienen ohne größere Probleme die Offensiven der Roten Armee zurückschlagen konnten, solange die Versorgung aus dem Osten mit Munition und Lebensmitteln nicht unterbrochen war. Saboteure wurden ausgesandt, die Brücken sprengten und die Kommunikationswege zerstörten. Das zaristische Heer wurde bis an die Grenzen des asiatischen Kontinents zurückgedrängt, ein Teil floh sogar über Alaska nach Kanada, um sich von dort aus in andere Länder zu zerstreuen.
    Heute kostet eine Fahrkarte von Moskau bis an den Pazifischen Ozean in einem Viererabteil zwischen dreißig und sechzig Euro.
     
    ***
     
    Das erste Foto auf der Reise machte ich vom Plan mit den Abfahrtszeiten. Unser Zug würde um 23.15 Uhr losfahren! Ich hatte Herzklopfen, wie damals als Kind, wenn meine elektrische Eisenbahn im Zimmer im Kreis fuhr und ich mir vorstellte, mit ihr an entlegene Orte zu reisen, so weit entfernt wie der, zu dem ich jetzt unterwegs war.
    Mein Gespräch mit J. in Saint-Martin vor etwas über drei Monaten schien selbst in einem früheren Leben stattgefunden zu haben. Was für idiotische Fragen ich damals gestellt hatte! Was ist der Sinn des Lebens? Warum komme ich nicht weiter? Warum kommt es mir so vor, als würde sich die spirituelle Welt immer weiter von mir entfernen? Die Antwort könnte nicht einfacher sein: weil ich nicht mehr richtig lebte!
    Wie gut es ist, sich wieder wie ein Kind zu fühlen, zu spüren, wie das Blut in den Adern fließt und die Augen glänzen, begeistert vom Anblick eines Bahnsteigs voller Menschen zu sein, den Geruch nach Schmieröl und nach Essen einzuatmen und gleichzeitig das Quietschen der Bremsen ankommender Züge zu hören, das helle Summen der Gepäckwägelchen und das Signalhorn der Lokomotiven.
    Leben heißt, die Dinge am eigenen Leib zu erfahren und nicht dazusitzen und über den Sinn nachzudenken. Nicht jeder muss Asien durchqueren oder den Jakobsweg entlangpilgern. Ich kenne einen Abt in Österreich, der die Abtei Melk fast nie verlassen hat und dennoch die Welt besser versteht als viele Reisende, die mir begegnet sind. Ich habe einen Freund, dem große spirituelle Erfahrungen zuteilwurden, während er seine schlafenden Kinder betrachtete. Wenn meine Frau ein Bild zu malen anfängt, gerät sie in eine Art Trance und spricht mit ihrem Schutzengel.
    Ich hingegen bin als Pilger geboren. Auch wenn ich mich noch so lustlos fühle oder mich nach Hause sehne, braucht es nur einen Schritt, und die Begeisterung zu reisen überwältigt mich. Auf dem Jaroslawler Bahnhof wird mir auf dem Weg zum Bahnsteig fünf klar, dass ich mein Ziel niemals erreichen werde, wenn ich die ganze Zeit am selben Ort bleibe. Ich kann nur mit meiner Seele in Verbindung sein, wenn wir beide unterwegs sind - in einer Wüste, in Städten oder in den Bergen.
    Unser Waggon ist der letzte des Zuges; er wird ein paar Mal an- oder abgehängt werden, wenn wir unterwegs Station machen. Von dort, wo ich stehe, kann ich die Lokomotive nicht sehen - nur den Zug, der wie eine riesige Schlange aus Stahl anmutet, und die vielen anderen Passagiere, Mongolen, Tataren, Russen, Chinesen, von denen einige auf großen Koffern sitzen. Alle warten sie darauf, dass sich die Zugtüren öffnen. Einige Leute kommen auf mich zu, aber ich lasse mich auf kein Gespräch ein. Ich möchte an nichts

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