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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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anderes denken als daran, dass ich jetzt hier bin, bereit zu einem neuen Aufbruch, einer neuen Herausforderung.
     
    ***
     
    Dieser Augenblick kindlicher Begeisterung kann nicht länger als fünf Minuten gedauert haben, aber ich habe jede Einzelheit, jedes Geräusch, jeden Geruch in mir aufgenommen. Später werde ich mich kaum noch daran erinnern, aber das ist unwichtig: Die Zeit ist kein Tonband, das vor- oder zurückgespult werden kann.
    Hör auf, darüber nachzudenken, was du den anderen später erzählen wirst. Bleib im Hier und Jetzt, und nimm so viel daraus mit wie möglich.
    Ich geselle mich zu meinen Begleitern und stelle fest, dass sie alle genauso aufgeregt sind wie ich. Ich werde dem Dolmetscher vorgestellt, der mich begleiten wird. Er heißt Yao, seine Eltern flohen bei Ausbruch des Bürgerkriegs in China nach Brasilien. Er wurde dort geboren, studierte später in Japan und war schließlich bis zu seiner Pensionierung Dozent an der Moskauer Universität. Er ist etwa siebzig Jahre alt, groß und als Einziger in der Gruppe makellos gekleidet, mit Anzug und Krawatte.
    »Mein Name bedeutet >weit weg<«, sagt er, um das Eis zu brechen.
    »Mein Name bedeutet >kleiner Fels<«, entgegne ich lächelnd. Überhaupt kann ich seit letzter Nacht gar nicht mehr aufhören zu lächeln. Angesichts des Abenteuers am nächsten Tag hatte ich kaum schlafen können, doch meine Stimmung könnte nicht besser sein.
    Hilal hält sich wie immer in meiner Nähe auf. Sie steht neben dem Waggon, in dem ich reisen werde, obwohl ihr Abteil in einem ganz anderen Teil des Zuges liegen muss. Ich bin nicht überrascht, sie dort zu sehen, ich hatte nichts anderes erwartet. Ich werfe ihr eine Kusshand zu, und sie antwortet mit einem Lächeln. Während der Reise werden wir sicher das eine oder andere interessante Gespräch führen.
    Ich stehe ganz still, darauf bedacht, jedes Detail um mich herum wahrzunehmen, wie ein Seefahrer, der das Mare Ignotum erkundet. Der Dolmetscher respektiert mein Schweigen, doch irgendetwas stimmt nicht, wie ich den besorgten Mienen meines Verlegers und meiner Lektorin entnehme. Ich frage Yao.
    Er erklärt mir, dass meine russische Agentin nicht erschienen ist. Ich erinnere mich an das Gespräch mit meinem Freund am Vortag, aber wo war das Problem? Wenn sie nicht gekommen ist, muss sie das mit sich selber abmachen.
    Ich beobachte, wie Hilal etwas zu meiner Lektorin sagt und eine offensichtlich ungehaltene Antwort bekommt. Aber Hilal verzieht keine Miene - wie am Abend vor dem Hotel, als ich ein Treffen ablehnte. Ich muss zugeben, dass ich mich langsam an ihre Anwesenheit gewöhne, ja, es gefällt mir sogar, ich mag ihre Entschlossenheit, ihre Selbstsicherheit. Inzwischen streiten die beiden Frauen.
    Yao übersetzt, meine Lektorin habe Hilal gebeten, zu ihrem Waggon zurückzugehen. Wohl kaum!, denke ich - diese junge Frau wird das tun, was sie will. Ich beobachte amüsiert ihren Tonfall und ihre Körpersprache - das Einzige, was ich verstehen kann. Als mir der Moment geeignet scheint, trete ich lächelnd hinzu.
    »Es wäre doch schade, wenn wir diesen glücklichen Moment verderben würden. Wir sind alle aufgeregt wegen dieses einmaligen Erlebnisses, niemand von uns hat bisher eine solche Reise gemacht.«
    »Aber sie will -«
    »Lassen Sie nur. Sie kann auch später noch zu ihrem Waggon gehen.«
    Meine Lektorin gibt nach.
    Das Geräusch der sich öffnenden Türen hallt auf dem ganzen Bahnsteig wider, und die Leute setzen sich in Bewegung. Wer sind all diese Menschen, die da gerade einsteigen? Was bedeutet diese Reise für jeden Einzelnen von ihnen? Ein Wiedersehen mit einem geliebten Menschen, ein Besuch bei Verwandten, die Suche nach Wohlstand, eine triumphale oder eine beschämte Heimkehr, ein Abenteuer, eine Flucht oder eine Heimkehr. Der Zug füllt sich mit all diesen Möglichkeiten.
    Hilal nimmt ihr Gepäck - das aus einem Rucksack und einer bunten Tasche besteht - und schickt sich an, mit uns in den letzten Waggon zu steigen. Meine Lektorin lächelt nur, als wäre das auch in ihrem Sinn, aber ich weiß, dass sie sich bei der nächsten Gelegenheit für die Niederlage rächen wird. Ich sehe davon ab, ihr zu erklären, dass Rache uns allenfalls unseren Feinden gleichmacht, während Verzeihen ein Zeichen von Weisheit und Klugheit ist. Mit Ausnahme der Mönche im Himalaja und der Heiligen in der Wüste sind Rachegefühle wohl keinem von uns fremd, weil sie untrennbar mit dem Wesen des Menschen verbunden sind. Wir

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