Aleph
sollten einander deswegen nicht verurteilen.
***
Unser Waggon besteht aus vier Abteilen mit angrenzenden Badezimmern, einem kleinen Salon, in dem wir voraussichtlich die meiste Zeit verbringen werden, und einer Küche.
Ich gehe in mein Abteil: Doppelbett, Schrank, unter dem Fenster Tisch und Stuhl, eine Tür führt ins Bad. Von dort führt eine weitere Tür in ein leeres Abteil. Mir kommt die Agentin in den Sinn, die nicht erschienen ist, offenbar wäre das ihr Abteil gewesen.
Ein Pfiff ertönt. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Wir laufen ans Fenster des kleinen Salons und winken den wildfremden Menschen zu, die draußen stehen. Der Bahnsteig bleibt immer weiter zurück, während die Lichter schneller und schneller an uns vorbeifliegen, reflektiert von den Stromleitungen und immer neuen Schienensträngen. Im Salon ist es still, keiner hat Lust zu reden, alle sind gespannt, was passieren wird. Ich bin sicher, dass keiner an das denkt, was er zurückgelassen hat, vielmehr daran, was vor uns liegt.
Als in der Dunkelheit draußen nichts mehr zu erkennen ist, setzen wir uns an den Tisch. Dem Obstkorb schenken wir keine Beachtung, denn wir haben bereits in Moskau zu Abend gegessen, doch die Wodkaflasche weckt unser Interesse und wird umgehend geöffnet. Wir trinken und reden über alles, nur nicht über die Reise. Nach ein paar weiteren Gläsern äußert dann doch jeder, was er von den kommenden Tagen erwartet. Und noch ein paar Gläser später macht sich allgemeine Fröhlichkeit breit. Plötzlich ist es so, als würden wir uns alle schon eine Ewigkeit kennen.
Ich unterhalte mich mit meinem Dolmetscher über seine Leidenschaften: Bücher, Reisen, Kampfsport. Wie es der Zufall will, habe ich in meiner Jugend Aikido gelernt. Sollte uns irgendwann Langeweile überkommen oder der Gesprächsstoff ausgehen, könnten wir also auf dem schmalen Gang neben den Abteilen ein wenig trainieren.
Hilal unterhält sich mit meiner Lektorin. Beide geben sich sichtlich Mühe, ihre Meinungsverschiedenheiten auszuräumen, doch ich ahne, dass der Friede nur von kurzer Dauer sein wird. Die Enge des Abteils trägt sicher nicht dazu bei, eine solche Situation zu entspannen, und der nächste Streit ist nur eine Frage der Zeit. Trotzdem bin ich zuversichtlich.
Der Dolmetscher scheint meine Gedanken erraten zu haben. Er schenkt allen Wodka nach und beginnt dann, scheinbar zusammenhanglos davon zu sprechen, wie beim Aikido Konflikte gelöst werden:
»Aikido ist kein Kampfsport im engeren Sinn. In erster Linie geht es darum, den Geist zu beruhigen, die Ursache für unsere Konflikte zu finden und dabei alle Spuren von Bosheit oder Egoismus zu tilgen. Wenn du dich zu sehr damit aufhältst herauszufinden, was an deinem Gegenüber gut oder schlecht sein könnte, wirst du darüber deine eigene Seele vergessen. Durch die verschwendete Energie wirst du schwach und verletzlich sein.«
Die Ausführungen meines siebzigjährigen Dolmetschers scheinen niemanden groß zu interessieren. Die anfängliche, vom Wodka ausgelöste Fröhlichkeit weicht einer allgemeinen Müdigkeit. Irgendwann gehe ich zur Toilette, und als ich zurückkomme, ist der Salon leer - bis auf Hilal natürlich.
»Wo sind die anderen?«, frage ich.
»Sie haben aus Höflichkeit gewartet, bis Sie den Raum verlassen haben. Dann sind sie schlafen gegangen.«
»Das sollten Sie besser auch tun!«
»Aber es gibt doch auch hier noch ein leeres Abteil…«
Ich nehme ihren Rucksack und ihre Tasche und führe Hilal behutsam am Arm bis zur Tür des Waggons.
»Sie sollten Ihr Glück nicht herausfordern. Gute Nacht.«
Sie sieht mich an und geht dann wortlos zu ihrem Abteil, das irgendwo weiter vorn im Zug liegt.
In meinem eigenen Abteil angekommen, spüre ich, wie auch mich eine ungeheure Müdigkeit überkommt. Ich stelle meinen Laptop und meine Heiligenbilder (die mich auf allen Reisen begleiten) auf den Nachttisch und gehe ins Bad, um mir die Zähne zu putzen - ein recht schwieriges Unterfangen: das Schaukeln des Zuges lässt das Mineralwasser in meinem Zahnputzbecher heftig hin und her schwappen.
Ich ziehe eines der T-Shirts an, die ich zum Schlafen trage, und rauche noch eine Zigarette. Dann lösche ich das Licht, schließe die Augen und denke darüber nach, ob sich das Schaukeln des Zuges mit einer Wiege vergleichen lässt. Ich sehe einer gesegneten Nachtruhe entgegen.
Eine trügerische Hoffnung.
Hilals Augen
Als der Tag heraufdämmerte, stehe ich völlig gerädert
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