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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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setze mich ans andere Ende der Badewanne.
    Hilal sagt:
    »Heute Morgen wusste ich beim Aufwachen, dass ich dir helfen muss, wieder mit der Energie des Universums in Kontakt zu treten. Gott ist durch meine Seele gegangen und hat mir versichert, dass, wenn es dir gelingt, auch ich es schaffen kann. Und er hat mich gebeten, hierherzukommen und für dich zu spielen, so dass du schlafen kannst.«
    Ich habe ihr gegenüber nie erwähnt, dass ich manchmal das Gefühl habe, diesen Kontakt verloren zu haben. Ihre Geste rührt mich. Da sind wir nun und versuchen, in dem hin und her schaukelnden Eisenbahnwaggon das Gleichgewicht zu halten. Der Bogen streicht über die Saiten, und die Saiten bringen Töne hervor, die sich im Raum ausbreiten. Der Raum selbst wird zu Musik, und alles ist erfüllt von Frieden und dem Göttlichen Licht, das allem Lebendigen innewohnt - und alles das durch ein einfaches Instrument.
    Hilals Seele ist in jedem einzelnen Ton, in jedem Akkord. Das Aleph hat mir ein wenig über die Frau enthüllt, die ich jetzt vor mir habe. Ich erinnere mich nicht an jede Einzelheit unserer gemeinsamen Geschichte, aber ich weiß, wir sind uns schon einmal begegnet. Ich hoffe, sie wird nie herausfinden, unter welchen Umständen. In diesem Moment umgibt sie mich mit der Kraft der Liebe, so wie sie es möglicherweise schon in der Vergangenheit getan hat und hoffentlich noch lange tun wird, denn nur Liebe kann uns retten, ungeachtet all unserer Fehler. Die Liebe ist immer stärker.
    Ich beginne ihr in Gedanken die Kleider anzulegen, die sie getragen hatte, als ich das letzte Mal allein mit ihr gewesen bin, bevor Männer in die Stadt gekommen sind und alles sich verändert hat: besticktes Wams, weiße Spitzenbluse, ein knöchellanger Rock aus schwarzem golddurchwirktem Samt. Ich höre, wie sie mir von ihren Zwiegesprächen mit Vögeln erzählt und davon, was die Vögel den Menschen zu sagen hätten, auch wenn diese nicht in der Lage seien, sie zu verstehen. In diesem Augenblick bin ich ihr Freund, ihr Beichtvater, ihr…
    Halt. Ich will diese Tür nicht öffnen, nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Viermal bin ich schon auf der anderen Seite gewesen, und nie hat es mir etwas gebracht. Ja, ich erinnere mich noch an alle acht Frauen, die dort gewesen waren, und vertraue darauf, eines Tages die Antwort zu bekommen, die noch fehlt. Doch all das hat mich bisher nie von meinem jetzigen Leben abgehalten. Als die erste Antwort kam, bin ich erschrocken gewesen, aber dann habe ich erkannt, dass Vergebung nur dann einen Sinn hat, wenn man sie annimmt.
    Und genau das habe ich getan.
    In der Bibel wird ein Augenblick beim letzten Abendmahl beschrieben, in dem Jesus voraussagt, dass einer seiner Jünger ihn verleugnen, ein anderer ihn verraten wird. Beides wiegt für ihn gleich schwer. Judas verrät ihn - und erhängt sich schließlich, von Schuldgefühlen zerfressen. Petrus verleugnet ihn - nicht nur ein, sondern gleich drei Mal. Er hätte genug Zeit gehabt, seinen Fehler einzusehen, doch er blieb dabei. Anstatt sich selbst jedoch zu bestrafen, macht er aus seiner Schwäche eine Stärke: Er wird zum ersten großen Verkünder der Botschaft dessen, den er verleugnet hatte, als der ihn am meisten gebraucht hatte.
    Mit anderen Worten: Die Botschaft der Liebe überwog die Sünde. Judas hat das nicht begriffen, Petrus aber wohl und machte es sich zunutze.
     
    Ich will diese Tür nicht öffnen, denn sie ist wie ein Damm, der einen Ozean zurückhält. Ein einziges kleines Loch, und schon würde er bersten und das Wasser alles überschwemmen, was nicht überschwemmt werden sollte. Ich befinde mich in einem Zug, und alles, was in diesem Augenblick zählt, ist eine junge Türkin namens Hilal, die Konzertmeisterin ist und in meinem Bad Geige spielt. Langsam werde ich schläfrig - die Medizin wirkt. Mein Kopf sinkt auf die Brust, die Augen fallen mir zu. Hilal unterbricht ihr Spiel nur, um mir zu sagen, dass ich mich aufs Bett legen soll. Ich gehorche.
    Sie setzt sich auf einen Stuhl und spielt weiter. Und plötzlich bin ich nicht mehr im Zug und auch nicht in jenem Garten, in dem ich sie in der weißen Bluse gesehen habe, sondern falle durch einen endlos langen Tunnel, der mich ins Nichts führen wird, in tiefen, traumlosen Schlaf. Das Letzte, woran ich denke, ist der Satz, den Yao am Morgen an den Spiegel geheftet hat.

Eine Stimme weckt mich. »Der Journalist ist da.«
    Es ist noch hell, der Zug steht in einem Bahnhof. Ich gehe etwas benommen zur

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