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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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guten und ihre schlechten Seiten. Wir können die Vergangenheit nicht für die Gegenwart verantwortlich machen, weder im Guten noch im Schlechten. Wenn wir lieben, fühlt es sich nie zweimal gleich an; es ist immer ganz neu.«
    Ich spreche zu ihnen, aber auch mit mir selbst.
    »Ist es möglich, Liebe unverändert von der Zeit zu erhalten?«, frage ich. »Wir könnten es versuchen, würden uns aber das Leben zur Hölle machen.
    Ich bin nicht seit mehr als zwei Jahrzehnten mit demselben Menschen verheiratet. Ganz und gar nicht! Weder meine Frau noch ich sind heute die, die wir einmal waren. Das ist auch der Grund, warum unsere Beziehung immer lebendig bleibt. Ich erwarte nicht von ihr, dass sie sich so verhält wie damals, als wir uns kennengelernt haben. Und sie möchte ebenso wenig, dass ich immer noch der bin, der ich war, als sie mich getroffen hat. Die Liebe steht außerhalb der Zeit. Oder, besser gesagt, die Liebe ist Zeit und Raum zugleich in einem einzigen, sich ständig verändernden Punkt, dem Aleph.«
    »Den meisten Leuten fällt es schwer, so zu denken. Sie wollen, dass alles so bleibt…«
    »…wie es ist, und die Folge ist Leid und nichts als Leid«, beende ich den Satz. »Wir sind nicht das, was die Leute von uns erwarten, oder so wie sie sich uns wünschen. Wir sind, wer wir zu sein beschlossen haben. Den anderen die Schuld zu geben ist immer einfach. Damit kannst du dein ganzes Leben zubringen, aber letztlich bist du allein für deine Erfolge oder deine Niederlagen verantwortlich. Du kannst versuchen, die Zeit anzuhalten, aber damit vergeudest du nur deine Energien.«
    Der Zug bremst plötzlich, und alle fahren erschrocken zusammen. Ich versuche, selbst auch aufzunehmen, was ich sage, und bin mir nicht sicher, ob die Leute am Tisch mir noch folgen können.
    »Stellt euch vor, der Zug hätte eben nicht gebremst, es hätte einen Unfall gegeben. Ende. Aus. Alle Erinnerungen würden verloren sein in der Zeit wie Tränen im Regen, wie der Android in Blade Runner sagt. Aber stimmt das wirklich? Nein, denn nichts verschwindet, alles wird in der Zeit aufgehoben. Wo ist mein erster Kuss archiviert? An einer verborgenen Stelle in meinem Gehirn? In einer Reihe von bereits deaktivierten elektrischen Impulsen? Und dabei ist mein erster Kuss lebendiger denn je, ich werde ihn nie vergessen. Er ist hier. Er ist Teil meines Alephs.«
    »Aber es gibt so viele ungelöste Probleme im Jetzt…«
    »Sie haben ihre Ursache in dem, was du >Vergangenheit< nennst, und sie warten auf eine Entscheidung in dem, was du >Zukunft< nennst. Sie verstopfen deinen Geist und wirken dadurch lähmend und hindern dich so daran, die Gegenwart, das Hier und Jetzt zu begreifen. Sich ausschließlich auf die Erfahrung verlassen bedeutet, alte Lösungen auf neue Probleme anzuwenden. Ich kenne viele Menschen, die nur für ihre Probleme leben. Die machen ihre ganze Existenz aus, weil diese Probleme mit dem verbunden sind, was sie für >ihre Geschichte< halten.«
    Da keiner etwas sagt, fahre ich mit meiner Erklärung fort:
    »Es kostet viel Kraft, sich von der Vergangenheit zu lösen, aber wenn du es schaffst, wirst du erkennen, dass du viel mehr vermagst, als du glaubst. Du bewohnst diesen unendlich großen Körper, das Universum, in dem alle Lösungen und alle Probleme enthalten sind. Besuche deine Seele, nicht deine Vergangenheit! Das Universum durchläuft viele Mutationen und trägt dabei die Vergangenheit mit sich. Jede dieser Mutationen nennen wir >ein Leben<. Aber so wie die Zellen deines Körpers sich verändern und du trotzdem immer ein und dieselbe Person bist, vergeht auch die Zeit nicht, sie verändert sich nur. Du glaubst, du bist dieselbe Person, die du in Jekaterinburg gewesen bist. Doch das stimmt nicht. Ich bin jetzt schon nicht mehr derselbe, der ich war, als ich angefangen habe zu sprechen. So wie der Zug sich inzwischen von der Stelle wegbewegt hat, an der Hilal zu spielen begonnen hat. Alles hat sich verändert, bloß werden wir uns dessen nicht bewusst.«
    »Aber eines Tages endet dieses Leben doch…«, meint Yao.
    »Endet es denn? Der Tod ist doch nichts weiter als eine Pforte in eine andere Dimension.«
    »Und dennoch, was immer Sie auch sagen: eines Tages verschwinden die Menschen, die wir lieben, und auch wir selbst.«
    »Die Menschen, die wir lieben, verlieren wir nie«, sage ich. »Sie begleiten uns, sie verschwinden nicht aus unserem Leben. Es ist eher so, als würden wir uns in verschiedenen Räumen aufhalten. Auch

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