Aleph
Energiebahnen blockiert. Also musste ich das Aleph finden.«
Das Gespräch scheint auf einmal eine vollkommen surreale Wendung genommen zu haben. Ich schweige weiter, aber mein Verleger versucht, die Situation zu retten.
»Unser Verlag hat auch ein Buch über Mathematik im Programm, in dem dieses Wort im Titel vorkommt. In der Fachsprache bedeutet es >die Zahl, die alle Zahlen enthalt<. Es geht darin um die Kabbala der Mathematik. Offenbar bezeichnen die Mathematiker mit >Aleph< die Mächtigkeit unendlicher Mengen…«
Niemand scheint seiner Erklärung zu folgen, also bricht er mitten im Satz ab.
»Das Aleph kommt auch in der Apokalypse vor«, sage ich, als würde ich mich einfach nur in die Unterhaltung einbringen wollen. »Dort wird das Lamm Gottes als Anfang und Ende definiert, als das, was jenseits der Zeit liegt. Es ist der erste Buchstabe des hebräischen, arabischen und aramäischen Alphabets.«
Meiner Lektorin missfällt es offenkundig, dass sich Hilal mit ihrer Bemerkung in den Mittelpunkt des Interesses gespielt hat. Sie kann sich nicht verkneifen, ein wenig zu sticheln.
»Wie auch immer, für eine Einundzwanzigjährige, die gerade die Musikausbildung beendet und eine glänzende Karriere vor sich hat, scheint eine Reise von Jekaterinburg nach Moskau und zurück nicht gerade das Naheliegendste.«
»Vor allem, wenn sie spalla ist.«
Hilal hat es genossen, welche Verwirrung das Wort Aleph hervorgerufen hatte. Es macht ihr ganz offensichtlich Spaß, die Lektorin mit einem weiteren mysteriösen Begriff zu provozieren.
Wieder einmal ist die Luft zum Schneiden. Da greift Yao ein:
»Sie sind schon spalla? Glückwunsch!«
Und er wendet sich an den Rest der Gruppe:
»Wie Sie sicher alle wissen, ist der spalla der erste Geiger oder Konzertmeister. Der letzte Musiker, der vor dem Dirigenten die Bühne betritt und immer links vorn am ersten Pult sitzt. Er überwacht zudem das Einstimmen der Instrumente. Ich kann dazu eine interessante Geschichte erzählen, die sich ausgerechnet in Nowosibirsk ereignet hat, unserer nächsten Station. Möchten Sie sie hören?«
Alle stimmen zu, weil dadurch ein handfester Streit zwischen Hilal und der Lektorin noch einmal aufgeschoben werden kann. Nach einem sterbenslangweiligen Vortrag über die Sehenswürdigkeiten von Nowosibirsk sind die Gemüter besänftigt, unser Grüppchen verteilt sich auf die Abteile, um etwas zu schlafen, und ich frage mich zum x-ten Mal, wie ich bloß auf die Idee kommen konnte, einen ganzen Kontinent mit dem Zug zu durchqueren.
»Oh, ich habe vergessen, den Gedanken des Tages anzubringen.«
Yao schreibt auf ein Post-it: Träumer können nicht gezähmt werden<, und heftet es an den Spiegel neben das vom Vortag.
»Ein Fernsehjournalist wartet an einem der nächsten Bahnhöfe und fragt an, ob er ein Interview mit Ihnen machen darf«, informiert mich mein Verleger.
Selbstverständlich. Mir ist jede Zerstreuung recht, alles, was die Zeit schneller vergehen lässt.
»Vielleicht sollten Sie mal etwas über Schlaflosigkeit schreiben«, schlägt der Verleger vor. »Wer weiß, vielleicht hilft es Ihnen beim Einschlafen.«
»Ich möchte dich auch interviewen«, verkündet Hilal. Sie hat offensichtlich die Lethargie der letzten Tage abgeschüttelt.
»Mach einen Termin mit meinem Verleger«, empfehle ich ihr.
Ich gehe in mein Abteil, lege mich hin und verbringe wie üblich die nächsten zwei Stunden damit, mich hin und her zu wälzen. Meine biologische Uhr ist inzwischen vollkommen aus dem Lot. Und wie jeder, der nicht schlafen kann, nehme ich mir vor, in dieser Zeit über interessante Dinge nachzudenken, was sich natürlich als vollkommen undurchführbar erweist.
Plötzlich höre ich Musik. Anfangs glaube ich, dass ich ohne mein Zutun wieder mit der spirituellen Welt verbunden sei, bis mir klarwird, dass ich außer der Musik auch die Räder auf den Schienen und das Klappern der Gegenstände auf meinem Tisch höre.
Die Musik ist real. Und sie kommt aus dem Badezimmer. Als ich die Tür öffne, sehe ich Hilal. Sie steht mit einem Fuß in der Badewanne und versucht, so gut es geht, das Gleichgewicht zu halten, während sie ihre Geige spielt. Sie lächelt, als sie mich sieht, denn ich trage nur meine Boxershorts. Aber die Situation hat etwas so Vertrautes, dass ich mir nicht die Mühe mache, eine Hose anzuziehen.
»Wie bist du hereingekommen?«
Sie unterbricht ihr Spiel nicht. Mit dem Kopf weist sie auf die Tür des angrenzenden Abteils. Ich nicke und
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