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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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verschwunden.
     
    Ich hatte gefragt, ob es sich um eine Frau oder einen Mann gehandelt habe. Das hatte sie jedoch nicht sagen können, da das Gesicht von einer Kapuze verborgen gewesen sei. Sie hatte mich gesegnet und wiederholt, ich solle mir keine Sorgen machen. In Rio sei es unerträglich heiß, obwohl es schon Herbst sei. Zum Schluss hatte sie mich ermahnt, meiner Intuition zu folgen, egal, was die anderen sagten.
     
    »In diesem Traum war übrigens eine Frau mit dir am Strand, eine Frau oder ein junges Mädchen, genau weiß ich es nicht.«
    »Es fährt eine junge Frau mit uns. Keine Ahnung, wie alt sie ist, aber bestimmt noch keine dreißig.«
    »Vertraue ihr.«
     
    ***
     
    Nachmittags traf ich mich dann mit meinem Verleger und meiner Lektorin und gab einige Interviews. Nach dem anschließenden Abendessen in einem ausgezeichneten Restaurant brachen wir gegen dreiundzwanzig Uhr gemeinsam zum Bahnhof auf.
    Den Ural, jenen Gebirgszug, der Europa von Asien trennt, durchquerten wir in vollkommener Dunkelheit. Es war absolut nichts zu sehen.
    Schon bald stellte sich wieder die alte Routine ein. Bei Tagesanbruch erschienen alle wie auf ein geheimes Signal hin zum Frühstück. Erneut hatte keiner ein Auge zubekommen. Nicht einmal Yao, der an diese Art des Reisens gewöhnt ist. Er sah immer müder und trauriger aus.
    Wie gewöhnlich erwartete Hilal mich bereits. Und wie gewöhnlich hatte sie besser als alle anderen geschlafen. Während wir frühstückten, klagten wir einmal mehr über das Schaukeln des Waggons, und anschließend ging ich zurück in mein Abteil, um noch etwas Schlaf zu bekommen. Nach ein paar Stunden stand ich wieder auf, nur um im Salon auf dieselben Leute zu treffen. Wir redeten über die Tausende von Kilometern, die noch vor uns lagen, schauten aus dem Fenster, rauchten, lauschten dem Gedudel aus den Zuglautsprechern.
    Hilal war auf einmal sehr schweigsam. Sie setzte sich immer in dieselbe Ecke, schlug ein Buch auf und kapselte sich so von der Gruppe ab. Das schien außer mir niemanden zu stören, doch ich fand ihr Verhalten den anderen gegenüber ziemlich respektlos. Da ihr Schweigen jedoch bei weitem besser war als die ständigen unpassenden Bemerkungen, sagte ich nichts.
    Nach dem Mittagessen schrieb ich in meinem Abteil ein paar Zeilen oder versuchte zu schlafen oder zumindest zu dösen. Kaum einer von uns hatte noch ein Gefühl für die Zeit. Niemand scherte sich mehr darum, ob es Tag war oder Nacht; wir richteten uns einzig nach den Mahlzeiten, ein Tagesablauf, wie ich ihn mir bei Gefängnisinsassen vorstellte.
    Wenn wir uns dann irgendwann erneut im Salon versammelten, war das Abendessen aufgetragen, es wurde mehr Wodka als Mineralwasser getrunken, mehr geschwiegen als miteinander geredet. Mein Verleger erzählte mir, dass Hilal, wenn ich nicht in der Nähe sei, eine imaginäre Geige spiele, als würde sie üben. Ich weiß, dass Schachspieler das auch tun: Sie führen ohne Schachbrett ganze Partien im Kopf aus.
    »Ja, sie spielt lautlose Musik für unsichtbare Wesen. Vielleicht brauchen die es.«
     
    ***
     
    Ein weiteres Frühstück. Inzwischen haben wir uns alle recht gut an unsere neuen Lebensumstände gewöhnt. Mein Verleger beschwert sich, dass sein Handy nicht ordentlich funktioniert (meines funktioniert überhaupt nicht). Seine Frau ist wie eine Haremsdame gekleidet, was mich gleichzeitig amüsiert und verwundert. Obwohl sie kein Englisch spricht, verstehen wir uns durch Gesten und Blicke ganz ausgezeichnet. Heute allerdings sind die Dinge in Bewegung. Hilal beschließt, am Gespräch teilzunehmen, und beschreibt die Schwierigkeiten, sich als Musiker seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Trotz allen Ansehens verdiene ein Musiker häufig weniger als ein Taxifahrer.
    »Wie alt sind Sie?«, fragt meine Lektorin.
    » Einundzwanzig.«
    »Das hätte ich nie gedacht.«
    Sie sagt es so, als würde Hilal wesentlich älter aussehen. Und das stimmt auch. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie noch so jung ist.
    »Der Direktor des Konservatoriums hat mich im Hotel in Jekaterinburg aufgesucht«, fährt die Lektorin fort, »hat mir gesagt, Sie seien eine der begabtesten Geigerinnen, die er je gesehen hat. Aber dass Sie ganz plötzlich das Interesse an der Musik verloren hätten.«
    »Das war das Aleph«, antwortet sie und meidet meinen Blick.
    »Das Aleph?«
    Alle schauen sie überrascht an. Ich gebe vor, nicht zugehört zu haben.
    »Genau. Das Aleph. Etwas in meiner Vergangenheit hat meine

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