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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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all die Leute gesehen, die drinnen um den Tisch herum sitzen.«
    »Offensichtlich ist eine Konzertmeisterin vom Konservatorium in Jekaterinburg -«
    Wie jeder gute Journalist hatte er sich die heikelste Frage bis zum Ende aufgespart. Aber dies ist nicht das erste Interview, das ich in meinem Leben gebe.
    »Ja, sie ist zufällig mit demselben Zug unterwegs«, falle ich ihm ins Wort. »Als ich davon erfuhr, habe ich sie eingeladen, uns, sooft sie Lust hat, in unserem Waggon zu besuchen. Ich liebe Musik.«
    Ich zeige auf Hilal.
    »Sie ist eine sehr begabte junge Frau. Hin und wieder macht sie uns die Freude, für uns zu spielen. Wollen Sie sie nicht interviewen? Ich bin sicher, sie beantwortet Ihre Fragen sehr gern.«
    »Falls noch Zeit bleibt.«
    Nein, er ist definitiv nicht hier, um über Musik zu sprechen. Aber er wechselt dennoch das Thema. »Was bedeutet Gott für Sie?«
    »Wer Gott kennt, beschreibt ihn nicht. Wer Gott beschreibt, kennt ihn nicht.« Wow!
    Ich bin selbst überrascht über meine Worte. Obwohl man mir die Frage schon unendlich viele Male gestellt hat, war meine automatische Antwort immer gewesen: »Als Gott sich Moses zeigte, sagte er: >Ich bin.< Daher ist Gott weder Subjekt noch Prädikat, sondern das Verb, der Prozess.«
    Yao tritt zu uns.
    »Perfekt. Beenden wir hiermit das Interview. Vielen Dank für Ihre Zeit.«

Wie Tränen im Regen
     
    Ich gehe in mein Abteil und notiere mir fieberhaft alles, worüber ich soeben mit den anderen gesprochen habe. Bald erreichen wir Nowosibirsk. Ich darf nichts vergessen, nicht das kleinste Detail. Gleichgültig, wer was gefragt hat. Wenn es mir gelingt, meine Antworten festzuhalten, werden sie mir großartiges Material zum Nachdenken liefern.
     
    ***
     
    Ich nehme an, dass der Journalist sich nicht sofort verabschieden wird, und so bitte ich Hilal, ihre Geige zu holen. Wenn der Kameramann sie filmt, würde später ein breites Publikum ihre Musik hören. Doch der Journalist entschuldigt sich unter dem Vorwand, am nächsten Bahnhof der Redaktion sein Material schicken zu müssen.
    Hilal kommt mit der Geige zurück, die sie im leeren Abteil hinter meinem hatte liegenlassen.
    Meine Lektorin reagiert sauer:
    »Sie meinen doch nicht etwa, Sie könnten einfach so, gratis, dieses Abteil belegen, oder?«
    Mein Blick muss Bände gesprochen haben, denn sie lässt das Thema sofort wieder fallen.
    »Sie könnten ja trotzdem etwas spielen«, schlägt Yao vor.
    Nachdem der Schaffner die Lautsprecher abgestellt hat, bitte ich Hilal, ein kurzes Stück auszuwählen.
    Die Stimmung im Salon hellt sich unvermittelt auf, alle bemerken es, denn unsere Müdigkeit ist auf einmal wie weggeblasen. Ein Gefühl tiefen Friedens erfüllt mich, umfassender noch als wenige Stunden zuvor in meinem Abteil.
    Wie konnte ich in den letzten Monaten nur ständig klagen, dass ich die Verbindung zur Göttlichen Energie verloren hätte? Was für ein Unsinn! Wir sind immer mit ihr verbunden, nur lässt uns die Routine das oft nicht erkennen.
    »Ich habe das Bedürfnis, zu reden, weiß aber nicht genau, worüber, also fragen Sie mich einfach irgendetwas«, sage ich in die Runde.
    Es würde nicht ich sein, der da spräche. Doch wie sollte ich das erklären?
    »Bist du mir schon irgendwo in der Vergangenheit begegnet?«, fragt Hilal sofort.
    Will sie tatsächlich, dass ich darauf antworte? Hier? Vor allen?
    »Das spielt keine Rolle. Wichtig ist, wo jeder von uns jetzt seinen Platz hat, im gegenwärtigen Augenblick. Wir sind es gewohnt, die Zeit wie die Entfernung zwischen Moskau und Wladiwostok zu messen. Aber das entspricht nicht den Tatsachen. Die Zeit bewegt sich nicht und steht doch auch nicht still. Die Zeit verändert sich. Wir nehmen einen Punkt in dieser ständigen Veränderung ein, unser Aleph. Die Vorstellung davon, dass die Zeit vergeht, ist wichtig, wenn man einen Zug erreichen will, aber sonst nützt sie nur wenig. Nicht einmal beim Kochen. Jedes Mal, wenn wir ein Rezept noch einmal kochen, ist das Ergebnis anders. Versteht ihr, was ich meine?«
    Nachdem Hilal einmal das Eis gebrochen hat, beginnen alle zu fragen:
    »Sind wir das Ergebnis dessen, was wir gelernt haben?«
    »Wir lernen in der Vergangenheit, aber wir sind kein direktes Ergebnis des Gelernten. Wir mögen in der Vergangenheit gelitten, in der Vergangenheit geliebt, geweint und gelacht haben. Doch können wir diese Erfahrung nur beschränkt auf die Gegenwart anwenden. Denn die Gegenwart hat ihre eigenen Herausforderungen, ihre

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