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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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viel weniger.« Sie deutet auf die blaue zwiebeiförmige Kuppel mit einem goldenen Kreuz darauf.
    Durch die offenen Türen betreten ein paar alte Frauen die Kirche. Ich sehe um mich und stelle fest, dass die Straße menschenleer ist. Noch gibt es keinen Verkehr. »Du musst etwas für mich tun.«
    Endlich schenkt sie mir das erste Lächeln an diesem Tag. Ich bitte sie um etwas! Ich brauche sie!
    »Ist es etwas, das nur ich tun kann?«
    »Ja, nur du. Aber frag mich nicht, warum ich dich darum bitte.«
     
    ***
     
    Ich nehme ihre Hand, und wir gehen gemeinsam hinein. Es ist nicht das erste Mal, dass ich ein orthodoxes Gotteshaus betrete. Ich weiß nie recht, wie ich mich dort verhalten soll, also zünde ich meistens eine der schlanken Wachskerzen an und bete zu den Engeln und den Heiligen, damit sie mich beschützen. Doch ich bin jedes Mal aufs Neue hingerissen von der Schönheit dieser Kirchen: Decken, die wie der Himmel gewölbt sind, das Hauptschiff ohne Bänke, Ikonen auf Goldgrund, die von Künstlern unter Beten und Fasten gemalt wurden. Einige der Frauen, die gerade hereingekommen sind, verneigen sich vor ihnen und küssen dann das schützende Glas.
    Wie immer, wenn wir ganz auf das konzentriert sind, was wir wirklich wollen, beginnen die Dinge perfekt ineinanderzugreifen. Trotz allem, was ich in der Nacht zuvor erlebt habe, und obwohl ich immer noch nicht weiter als bis zu dem Brief des Superiors gekommen bin, ist mein Herz ruhig, denn ich weiß, dass mir bis Wladiwostok noch genügend Zeit bleibt.
    Hilal scheint von der Schönheit des Ortes ebenfalls bezaubert zu sein und vergessen zu haben, dass wir uns in einer Kirche befinden. Ich gehe zu einer Frau, die in einer Ecke hockt und Kerzen verkauft. Ich nehme vier, zünde drei davon vor dem Bildnis an, das den heiligen Georg darzustellen scheint, und spreche eine Fürbitte für mich, meine Familie, meine Leser und meine Arbeit.
    Danach zünde ich die vierte Kerze an und bringe sie Hilal.
    »Tue genau das, worum ich dich jetzt bitte. Halte diese Kerze.«
    Unwillkürlich sieht sie sich um, ob uns jemand beobachtet. Glaubt sie etwa, ich könnte etwas dem Ort Unangemessenes von ihr verlangen? Im nächsten Moment ist sie schon wieder ganz sie selbst, schließlich mag sie keine Kirchen, was kümmert sie da die Meinung anderer?
    Die Flamme der Kerze spiegelt sich in ihren Augen. Ich senke den Kopf. Ich spüre nicht das geringste Schuldgefühl, nur Geborgenheit und einen fernen Schmerz, dessen Ursprung sich in einer anderen Dimension befindet und den ich willkommen heißen muss.
    »Ich habe dich verraten. Und ich bitte dich, mir zu vergeben.«
    »Tatiana!«
    Ich lege ihr meine Hand auf den Mund. So stark und mutig und begabt sie auch sein mag: sie ist erst einundzwanzig. Ich hätte den Satz anders formulieren sollen.
    »Nein. Es geht nicht um Tatiana. Aber bitte vergib mir.«
    »Ich kann dir doch nicht vergeben, wenn ich gar nicht weiß, was du getan hast.«
    »Erinnere dich an das Aleph. Erinnere dich an das, was du in jenem Augenblick gefühlt hast. Versuche an diesen heiligen Ort etwas dir Unbekanntes zu bringen, was aber in deinem Herzen ist. Erinnere dich notfalls an ein Geigenkonzert, das du gern spielst, und lasse dich von diesem Gefühl leiten. Nur das ist jetzt wichtig. Worte, Erklärungen, Fragen werden nicht helfen und machen alles nur noch komplizierter. Es ist so schon komplex genug. Vergib mir, aber vergib mir aus tiefster Seele; aus der Seele, die von einem Körper in den anderen übergeht und auf ihrer Reise durch den unendlichen Raum und in der unvergänglichen Zeit immer weiter dazulernt.«
    Die Seele ist unverletzlich, so wie Gott unverletzlich ist. Selbst wenn wir alles haben, um glücklich zu sein, bleiben wir immer an die Vergangenheit gefesselt, und das macht unser Leben bedauernswert. Wir sollten den gegenwärtigen Augenblick auskosten, ihn genießen, als wären wir eben erst auf dem Planeten Erde aufgewacht und würden uns in einem goldenen Tempel wiederfinden. Aber das fällt uns schwer.
    »Ich wüsste nicht, weswegen ich dem Mann, den ich liebe, vergeben sollte. Höchstens, weil er mir nie gesagt hat, dass er mich liebt.«
    Weihrauchduft beginnt sich auszubreiten. Die Priester kommen zum Morgengebet herein.
    »Vergiss, wer du in diesem Augenblick bist, und begib dich dahin, wo jene wartet, die du immer warst. Dort wirst du die richtigen Worte finden und mir mit diesen Worten vergeben.«
    Hilal sucht nach einer Eingebung an den vergoldeten

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