Aleph
ganz beiläufig, aber ihre Äußerung verfehlt ihr Ziel nicht. »Die Welt ist aufgeteilt in diejenigen, die mich verstehen, und diejenigen, die mich nicht verstehen. Letztere müssen sich gewaltig anstrengen, um meine Sympathie zu erlangen.«
»Merkwürdig. Das geht mir ganz ähnlich«, schießt Hilal zurück. »Ich weiß immer ganz genau, was ich will, und bisher habe ich es auch jedes Mal erreicht. Zum Beispiel, dass ich jetzt in diesem Waggon schlafe.«
Yao erhebt sich, er ist offensichtlich nicht in der Stimmung für diese Art von Unterhaltung.
Mein Verleger schaut mich an. Was erwartet er von mir? Dass ich Partei ergreife?
»Darum geht es doch nicht«, wendet sich meine Lektorin nun direkt an Hilal. »Bis zur Geburt meines Sohnes meinte ich immer, ich könne mit jeder Situation umgehen. Danach schien die Welt über mir zusammenzubrechen, ich fühlte mich schwach, unbedeutend, unfähig, ihn zu beschützen. Nur Kinder denken, dass sie alles erreichen können. Weil sie keine Angst, sondern Vertrauen haben, Zuversicht in ihre eigenen Kräfte, und so genau das bekommen, was sie wollen. Erst wenn sie älter werden und ihre kindliche Naivität verlieren, begreifen sie, dass ihrer Macht Grenzen gesetzt sind und dass sie auf andere Menschen angewiesen sind, um zu überleben. Dann beginnt das Kind zu lieben und zu hoffen, dass seine Liebe erwidert wird, und mit zunehmendem Alter ist es dafür zu immer mehr Konzessionen bereit. Am Ende geht es uns allen gleich: Wir sind erwachsene Menschen, die alles dafür tun, angenommen und gemocht zu werden.«
Yao betritt das Abteil und balanciert auf einem Tablett eine Teekanne und sechs Becher.
»Deshalb habe ich nach dem Aleph und der Liebe gefragt«, fährt die Lektorin fort. »Ich meinte damit keinen Mann. Es gab Augenblicke, in denen ich meinen schlafenden Sohn betrachtete und sich mir die ganze Welt eröffnete: Ich konnte den Ort sehen, von dem er gekommen war, die Orte, an die er gehen würde, die Prüfungen, die er bestehen musste, bevor er erreichen würde, was ich mir für ihn erträumte. Er wuchs heran, meine Liebe zu ihm blieb unverändert, aber das Aleph verschwand.«
Ja, sie hat das Aleph verstanden. Auf ihre Worte folgt respektvolles Schweigen. Hilal ist vollkommen entwaffnet.
»Ich bin verloren«, gesteht Hilal. »All die Gründe, die mich ursprünglich hierhergeführt haben, scheinen nicht mehr vorhanden. Ich kann am nächsten Bahnhof aussteigen, nach Jekaterinburg zurückkehren, mich für den Rest meines Lebens meiner Geige widmen und weiterhin nichts verstehen. Und mich am Tag meines Todes fragen: Was habe ich hier eigentlich gemacht?«
Ich berühre ihren Arm.
»Komm mit mir.«
Ich will aufstehen, sie mit ins Aleph nehmen, um sie auf diese Weise daran zu erinnern, warum sie Asien mit dem Zug durchqueren wollte, und ich würde anschließend jede ihrer Entscheidungen akzeptieren. Ich erinnere mich an die Ärztin, die ich nach unserem gemeinsamen Eintauchen ins Aleph nie wiedergesehen habe. Würde es mir mit Hilal genauso gehen?
»Einen Augenblick«, sagt Yao.
Er bittet uns alle, wieder Platz zu nehmen, verteilt die Becher und stellt die Teekanne mitten auf den Tisch.
»Als ich in Japan lebte, habe ich gelernt, die Schönheit der einfachen Dinge wahrzunehmen. Und das Einfachste und zugleich Raffinierteste, das ich jemals erlebt habe, war die Teezeremonie. Ich habe uns Tee geholt, um daran zu erinnern, dass wir ungeachtet all unserer Konflikte, unserer Schwierigkeiten, unserer Engherzigkeit und unseres Großmuts die einfachen Dinge im Leben schätzen können. Einst haben die Samurai ihre Schwerter vor dem Teehaus abgelegt, bevor sie sich darin in korrekter Haltung niedersetzten und an der kunstvollen Zeremonie teilnahmen. Das ermöglichte es ihnen, den Krieg zu vergessen und sich ganz in die Bewunderung des Schönen zu versenken. Lassen Sie uns genau das jetzt tun.«
Yao gießt einem nach dem anderen Tee ein. Wir warten schweigend.
»Ich habe Tee geholt, weil ich zwei kampfbereite Kriegerinnen gesehen habe. Aber als ich zurückkam, waren an die Stelle der Kriegerinnen zwei Seelen getreten, die einander verstanden und der beruhigenden Wirkung eines Tees nicht mehr bedurften. Doch lassen Sie uns trotzdem zusammen trinken. Bei der Teezeremonie geht es darum, Vollkommenheit durch die unvollkommenen Verrichtungen des Alltagslebens zu erreichen. Vollendete Weisheit besteht darin, die einfachen Dinge, die wir tun, zu achten, denn auch sie können uns dorthin
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