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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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umarmen, doch sie hebt die Hand.
    »Ich bin noch nicht fertig.«
    Sie schließt die Augen wieder und hebt den Kopf.
    »Ich vergebe auch mir selbst. Möge das Unglück der Vergangenheit nicht länger auf meinem Herzen lasten. An die Stelle des Schmerzes und des Grolls setze ich Verständnis und Mitgefühl. An die Stelle des Aufbegehrens setze ich mein Geigenspiel. An die Stelle des Schmerzes setze ich das Vergessen. An die Stelle der Rache setze ich den Sieg.«
     
    Ich will und werde imstande sein zu lieben,
    aller Lieblosigkeit zum Trotz.
    Ich will und werde imstande sein zu geben,
    auch wenn ich nichts mehr habe.
    Fröhlich zu arbeiten, auch inmitten aller Widrigkeiten.
    Helfend die Hand auszustrecken,
    selbst wenn ich allein und verlassen bin.
    Tränen anderer zu trocknen, auch wenn ich selbst traurig bin.
    Zu glauben, auch wenn niemand an mich glaubt.
     
    Sie öffnet die Augen, legt mir segnend die Hände an den Kopf und sagt mit einer Autorität, die nicht die Ihre ist: »So soll es sein. So wird es sein.«
     
    ***
     
    In der Ferne kräht ein Hahn. Das ist das Zeichen. Ich nehme sie bei der Hand, und wir gehen hinaus in die erwachende Stadt. Hilal wirkt etwas überrascht von ihren eigenen Worten, ich spüre, dass dieser Augenblick der Vergebung der bislang wichtigste meiner Reise war. Aber damit ist es nicht getan. Ich muss noch erfahren, was passiert ist, nachdem ich den Brief des Superiors gelesen hatte.
    Wir kommen noch rechtzeitig, um mit dem Rest der Gruppe zu frühstücken, die Koffer zu packen und uns zum Bahnhof zu begeben.
    »Hilal wird im leeren Abteil in unserem Waggon schlafen«, sage ich.
    Kein Kommentar, von niemandem. Ich kann mir vorstellen, was sie denken, mache mir aber nicht die Mühe zu erklären, dass sie mit ihren Vermutungen falschliegen.
    »Korkmaz Igit«, sagt Hilal.
    Die Überraschung in allen Gesichtern (das Yaos eingeschlossen) sagt mir, dass das kein Russisch war.
    »Korkmaz Igit«, wiederholt sie. »Das ist Türkisch und bedeutet: Er geht und fürchtet sich nicht.«

Teeblätter
     
    Inzwischen scheint sich jeder von uns an das Reisen mit der Eisenbahn gewöhnt zu haben. Der Mittelpunkt unseres Universums ist der Tisch im Salon, um den wir uns täglich zum Frühstück, Mittag- und Abendessen versammeln und wo wir über das Leben und über unsere Hoffnungen für die Zukunft sprechen. Hilal ist jetzt im selben Waggon untergebracht, sitzt mit uns am Tisch, benutzt mein Bad für ihre tägliche Dusche, übt wie besessen Geige und kapselt sich immer mehr ab.
    Heute dreht sich das Gespräch um die Schamanen vom Baikalsee, unserem nächsten Halt. Yao erklärt, er würde sehr gern einen von ihnen kennenlernen. »Wir werden sehen«, brumme ich. Im Klartext: >Kein Interesse.< So wie ich ihn kenne, wird er sich jedoch nicht so leicht davon abbringen lassen. Im Kampfsport ist eines der bekanntesten Prinzipien, keinen Widerstand zu leisten. Gute Kämpfer verwenden die Kraft ihres Gegners gegen ihn. Je mehr Worte ich mache, desto weniger bin ich von dem überzeugt, was ich sage, und desto einfacher bin ich zu bezwingen.
    »Ich muss gerade an unser Gespräch kurz vor der Ankunft in Nowosibirsk denken«, sagt meine Lektorin. »Sie erklärten, dass das Aleph ein Punkt außerhalb eines Menschen sei, dass aber Menschen, die sich wirklich lieben, diesen Punkt überall finden können. Die Schamanen glauben, dass sie mit besonderen Kräften ausgestattet und deshalb nur sie in der Lage sind, an diesen Ort zu gelangen.«
    »Vom Standpunkt der Magie aus lautet die Antwort ja, dieser Punkt liegt außerhalb des Menschen. Gemeinhin sehen wir uns als voneinander verschiedene Wesen, das Universum jedoch ist ein und dieselbe Seele. Liebende können in ganz besonderen Augenblicken dieses Einssein empfinden. Sicher ist aber, dass es eines sehr intensiven Erlebnisses bedarf, um das Aleph hervorzurufen: eines intensiven Orgasmus, eines großen Verlustes, eines Konflikts auf dem Höhepunkt, Begeisterung angesichts außergewöhnlicher Schönheit.«
    »An Konflikten herrscht kein Mangel«, sagt Hilal. »Auch hier in diesem Waggon nicht.«
    Der Frieden war also wieder einmal trügerisch. Hilal brachte mit ihren Bemerkungen Unruhe in eine Situation, die sich gerade begonnen hatte zu entspannen. Sie hat Terrain erobert, indem sie nun das Abteil direkt neben meinem belegt, und will ihre neue Position auch zeigen. Meine Lektorin weiß, dass die Worte ihr gegolten haben.
    »Konflikte sind etwas für Unbelehrbare«, sagt sie

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