Aleph
bringen, wohin wir gelangen sollen.«
Wir trinken andächtig den Tee, den Yao uns eingeschenkt hat. Jetzt, wo mir vergeben wurde, kann ich das Getränk aus jung geernteten und später an der Sonne getrockneten Blättern genießen, das ringsum Harmonie verbreitet. Keiner von uns hat es eilig; während dieser Reise zerstören wir uns ständig und erschaffen uns immer wieder neu.
Als wir fertig sind, bitte ich Hilal erneut, mir zu folgen. Sie verdient es, die ganze Geschichte zu erfahren und selbst zu entscheiden.
In dem kleinen Übergang zwischen den Eisenbahnwaggons unterhält sich ein Mann in meinem Alter mit einer Frau, die genau an der Stelle steht, an der sich das Aleph befindet. Angesichts der Energie an diesem Punkt werden sie möglicherweise noch eine Weile dort stehen bleiben.
Hilal und ich warten. Eine dritte Person kommt, zündet sich eine Zigarette an, gesellt sich zu den beiden anderen.
Hilal macht Anstalten, ins Abteil zurückzukehren.
»Das ist unser Platz. Warum gehen sie nicht in den nächsten Waggon?«
Ich bitte sie zu bleiben. Wir haben Zeit.
»Warum warst du eben so aggressiv, obwohl es gar keinen Grund dafür gab?«, frage ich.
»Ich weiß auch nicht. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Mit jedem Zwischenstopp, mit jedem Tag, der vergeht, fühle ich mich hilfloser. Ich dachte, dass ich unbedingt das Feuer auf dem Berg anzünden und an deiner Seite sein müsste, dir helfen, eine Mission zu erfüllen, die ich selbst gar nicht kenne. Ich war mir sicher, dass deine Lektorin genauso reagieren würde und alles tun würde, um mich daran zu hindern. Ich habe gebetet, dass Gott mir die Kraft gibt, alle Erniedrigungen, Beleidigungen, Zurückweisungen und die Verachtung ertragen zu können - alles im Namen einer Liebe, die ich niemals für möglich gehalten habe und die es dennoch gibt.
Und schließlich bin ich auch fast ans Ziel gelangt. Ich schlafe im Abteil neben dir, das leer war, weil Gott wollte, dass jener Gast in letzter Minute abgesagt hat. Nicht sie hat diese Entscheidung getroffen, sondern es war Gottes Wille, da bin ich mir sicher. Aber jetzt verspüre ich zum ersten Mal, seit ich diese Reise angetreten habe, den Wunsch, aufzugeben.«
Wieder kommt jemand, um sich der Gruppe anzuschließen, und bringt drei Dosen Bier mit. Alles deutet darauf hin, dass dieses Treffen noch eine Weile dauern wird.
»Ich weiß, wie das ist. Du glaubst, du kommst nicht mehr weiter, aber das stimmt nicht. Doch du hast recht, du musst herausfinden, warum du hier bist. Ich möchte, dass du mir vergibst, und ich möchte dir gern zeigen, wieso. Aber Worte helfen nicht, du musst es selbst erleben, um es zu verstehen. So wie ich auch, denn wie die Geschichte ausgeht, weiß ich ebenfalls nicht.«
»Lass uns warten, bis die vier dort endlich weggehen, damit wir ins Aleph gelangen können.«
Das wird nicht so bald der Fall sein, und zwar genau wegen des Aleph. Sie werden sich dessen gar nicht bewusst sein, aber die Euphorie und das Gefühl, einen vollkommenen Augenblick zu erleben, kommen von diesem Ort. Während ich die Gruppe beobachte, wird mir klar, dass ich Hilal besser langsam an das Ende der Geschichte heranführen und ihr nicht alles auf einmal zeigen sollte.
»Komm heute Nacht in mein Abteil. Du wirst ohnehin kaum Schlaf finden bei dem Geschaukel des Waggons.
Aber wenn du dich neben mich legst und die Augen schließt, nehme ich dich in den Arm wie in dem Hotelzimmer in Nowosibirsk. Ich werde dann versuchen, allein bis ans Ende der Geschichte zu gelangen, und werde dir anschließend erzählen, was geschehen ist.«
»Darauf hatte ich gehofft. Auf eine Einladung in dein Abteil. Aber bitte weise mich nicht wieder zurück.«
Die fünfte Frau
»Ich hatte keine Zeit, meinen Pyjama zu waschen.« Hilal trägt nur ein T-Shirt, das sie sich von mir ausgeliehen hat und das ihr gerade bis zu den Schenkeln reicht. Ich kann nicht erkennen, ob sie etwas darunter trägt. Sie schlüpft unter die Decke.
Ich streichle ihr Haar. Ich muss so taktvoll und zartfühlend sein, wie ich irgend kann, um alles zu sagen und gleichzeitig nichts.
»Bitte halte mich einfach nur im Arm.« Diese Geste ist so alt wie die Menschheit und mehr als nur die Begegnung zweier Körper. Eine Umarmung bedeutet: Du stellst keine Bedrohung für mich dar, ich habe keine Angst, dich in meine Nähe zu lassen, ich fühle mich entspannt, geborgen, verstanden. Es heißt, dass wir mit jeder liebevollen Umarmung einen Tag Leben geschenkt
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