Aleph
jeden Halt als unliebsame Störung empfinden.
Hilal ist nach dem Zwischenfall auf der Party schlecht gelaunt. Mein Verleger streitet wütend mit jemandem am Handy. Yao beruhigt mich, es gehe ausschließlich um ein Vertriebsproblem. Die drei Leser, die uns begleiten, wirken noch schüchterner, als es sonst der Fall ist.
Wir bestellen Drinks. Einer von ihnen rät uns, vorsichtig zu sein, es handele sich um eine Mischung aus mongolischem und sibirischem Wodka und die Folgen am Tag darauf seien nicht ohne. Aber alle brauchen etwas zu trinken, um die Anspannung zu lockern. Wir kippen das erste, das zweite Glas, und bevor das Essen aufgetragen wird, bestellen wir bereits die zweite Flasche. Am Ende beschließt der Leser, der uns wegen des Wodkas gewarnt hat, dass er nicht als Einziger nüchtern bleiben möchte, und kippt unter dem Applaus aller gleich drei Gläser hintereinander. Nur Hilal stimmt in die allgemeine Heiterkeit nicht ein, sondern schaut weiterhin finster, obwohl sie genauso viel getrunken hat wie der Rest der Gruppe.
»Diese Stadt ist ein grässlicher Ort«, sagt der Leser, der bis vor zwei Minuten keinen Alkohol getrunken hatte und jetzt schon blutunterlaufene Augen hat. »Sie haben ja gesehen, wie es vor dem Restaurant aussieht.«
Mir war eine Reihe außergewöhnlich schöner Holzhäuser aufgefallen, ein nicht gerade alltäglicher Anblick. Ein Architekturmuseum unter freiem Himmel gewissermaßen.
»Ich meine nicht die Häuser, ich meine die Straße.«
Tatsächlich war der Belag hier und da schadhaft, und an einigen Stellen hatte ich den Gestank der offenen Abwasserleitungen gerochen.
»Wissen Sie, die Mafia kontrolliert diesen Teil der Stadt«, fährt er fort. »Sie wollen alles kaufen und abreißen, um ihre grauenhaften Wohnblocks zu bauen. Da die Leute bis jetzt nicht bereit sind, ihre Grundstücke und Häuser zu verkaufen, rächen sie sich, indem sie jegliche Sanierungsmaßnahmen verhindern. Diese Stadt gibt es seit vierhundert Jahren, sie hat Ausländer immer mit offenen Armen empfangen, Kontakte nach China gepflegt, sie war wegen ihrer Diamanten-, Leder- und Pelzhändler geachtet. Aber seit die Mafia hier Fuß zu fassen versucht, geht alles den Bach runter - obwohl die Regierung sie bekämpft.«
Das Wort >Mafia< kennt man überall auf der Welt. Der Verleger hängt noch immer am Telefon, die Lektorin beklagt sich, weil die Speisekarte nicht kommt, und Hilal behandelt uns wie Luft. Yao und mir aber fällt plötzlich eine Gruppe von Männern auf, die am Nebentisch sitzt und interessiert unserem Gespräch folgt.
Paranoia. Reine Paranoia.
Der Leser trinkt und schimpft weiter. Seine zwei Freunde geben ihm in allem recht. Sie kritisieren die Regierung, den Zustand der Straßen, die schlechte Wartung des Flughafens. Nichts, was nicht jeder von uns auch über seine eigene Stadt sagen würde, nur dass bei ihnen in jeder Beschwerde das Wort >Mafia< vorkommt. Ich versuche, das Thema zu wechseln, indem ich sie über die Schamanen in der Region ausfrage - sehr zu Yaos Freude, da ich offenbar seinen Vorschlag nicht vergessen habe. Doch wie auf ein Stichwort beginnen die jungen Männer von der >Schamanenmafia< und der >Mafia der Touristenführer< zu reden. Inzwischen steht schon die dritte Flasche mongolisch-sibirischen Wodkas auf dem Tisch, und alle diskutieren aufgeregt über Politik auf Englisch, damit ich verstehe, was sie sagen, oder aber damit die Gäste am Nebentisch das Gespräch nicht mitbekommen. Mein Verleger klappt endlich sein Handy zu und beteiligt sich ebenfalls, und auch meine Lektorin ist begeistert dabei, während Hilal schweigend ein Glas Wodka nach dem anderen kippt. Nur Yao bleibt nüchtern, den Blick wie nachdenklich in die Ferne gerichtet, um so seine Besorgnis zu verbergen. Ich habe beim dritten Glas aufgehört und die Absicht, es dabei zu belassen.
Und da wird, was eine Paranoia zu sein schien, Wirklichkeit. Einer der Männer vom Nebentisch erhebt sich und kommt zu uns.
Er sagt nichts. Er schaut nur schweigend die jungen Männer an, die wir zum Abendessen eingeladen haben, und sie verstummen sofort. Mein Verleger, der vom Alkohol und dem Vertriebsproblem in Moskau ein bisschen verwirrt ist, fragt etwas auf Russisch.
»Nein, ich bin nicht sein Vater«, antwortet der Fremde. »Aber ich weiß nicht, ob er schon alt genug ist, um so viel zu trinken. Und Dinge zu sagen, die einfach nicht stimmen.«
Sein Englisch ist perfekt, seine Aussprache hat den leicht affektierten Akzent
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