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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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früheren Leben während der Schlacht verbrannt wurden.«
    Ich lächle. Yao schaut mich an und lächelt zurück. Ich weiß nicht, ob ihm klar ist, was er gerade gesagt hat. Das sind die Male, die ich seit jenem fernen Morgen im Keller immer behalten werde. Ich habe dieselbe Läsion auf der Hand des französischen Schriftstellers gesehen, der ich im 19. Jahrhundert gewesen bin. Es ähnelt in der Form jenen kleinen römischen Münzen, nummuli genannt, denen es auch seinen Namen verdankt.
    Oder einem kleinen Brandmal.
    Die Musik verstummt. Es ist Zeit, zum Abendessen zu gehen. Ich schlendere zu Hilal hinüber und lade ihren Tanzpartner ein, uns zu begleiten. Er wird einer der an diesem Abend ausgewählten Leser sein.
    »Aber du hast doch schon andere Leute eingeladen.«
    »Ein zusätzlicher Platz findet sich immer«, erwidere ich.
    »Nicht immer. Nicht alles im Leben ist wie ein langer Zug, für den jeder eine Fahrkarte kaufen kann«, kontert Hilal.
    Auch wenn er die Bemerkung nicht recht versteht, merkt der junge Mann doch, dass etwas zwischen uns beiden nicht stimmt. Er sagt, er habe bereits seiner Familie versprochen, zum Abendessen nach Hause zu kommen.
    Ich erlaube mir einen kleinen Spaß mit ihm.
    »Haben Sie Majakowski gelesen?«, frage ich.
    »Der ist an russischen Schulen nicht mehr Pflichtlektüre. Eine Zeitlang war er sowjetischer Vorzeigedichter.«
    Der junge Mann hat ja Recht. Dennoch habe ich in seinem Alter Majakowski geliebt. Und ich weiß daher ein bisschen was über sein Leben.
    Meine Verleger kommen herüber, weil sie befürchten, vor ihren Augen würde sich gleich eine Eifersuchtsszene abspielen. Doch wie so off sind die Dinge nicht, wie sie scheinen.
    »Er hat sich in die Ehefrau seines Verlegers, eine Ballerina, verliebt«, sage ich herausfordernd. »Sie hatten eine leidenschaftliche Affäre, die wesentlich dafür verantwortlich war, dass Majakowskis Werk weniger politisch und dafür menschlicher wurde. Obwohl ihr Name immer verändert war, wusste der Verleger nur zu gut, dass in den Gedichten von seiner Frau die Rede war, gab aber weiterhin Majakowskis Bücher heraus. Die Ballerina liebte ihren Mann und den Dichter. Die Lösung, die sie schließlich fanden, war, zu dritt zusammenzuleben. Und sie waren glücklich.«
    »Ich liebe auch meinen Mann und Sie!«, witzelt die Frau meines Verlegers. »Warum ziehen Sie nicht nach Russland?«
    Der junge Mann versteht die Botschaft.
    »Ist sie Ihre Freundin?«, fragt er.
    »Ich liebe sie seit mindestens fünfhundert Jahren. Aber die Antwort ist nein. Sie ist frei wie ein Vogel. Eine junge Frau, die eine brillante Karriere vor sich hat und bislang niemanden gefunden hat, der sie mit der Liebe und dem Respekt behandelt, die sie verdient.«
    »Was redest du da für einen Unsinn? Glaubst du, du musst mir einen Mann beschaffen?«
    Der junge Mann wiederholt, dass seine Familie ihn zum Abendessen erwartet, bedankt sich und geht. Die anderen eingeladenen Leser schließen sich uns an, und wir gehen los.
    »Entschuldigen Sie, dass ich mich einmische«, beginnt Yao, als wir über die Straße gehen, »aber Sie haben sich Hilal, dem jungen Mann und sich selbst gegenüber ungerecht verhalten. Hilal gegenüber, weil Sie es in diesem Moment versäumt haben, die Liebe, die sie für Sie empfindet, angemessen zu achten. Dem jungen Mann gegenüber, weil er ihr Leser ist und Sie ihn vorgeführt haben. Und sich selbst gegenüber, weil Sie unbedingt zeigen wollten, dass Sie bedeutender sind als er. Eifersucht hätte ich ja noch verstehen können. Dabei ging es Ihnen einzig darum, uns allen weiszumachen, dass Ihnen Hilal egal ist. Was aber nicht stimmt.«
    Ich nicke beschämt. Nicht immer gehen spirituelle Entwicklung und Weisheit Hand in Hand.
    »Und wenn wir schon mal dabei sind«, fährt Yao fort. »Für mich war Majakowski noch Pflichtlektüre. Und wir alle wissen, dass diese menage á trois ganz und gar nicht gutgegangen ist: Er hat sich im Alter von sechsunddreißig Jahren mit einem Schuss ins Herz das Leben genommen.«
     
    ***
     
    Wir haben inzwischen eine Zeitdifferenz von fünf Stunden zum Ausgangspunkt der Reise. Während wir in Irkutsk mit dem Abendessen beginnen, beenden die Leute in Moskau gerade ihr Mittagessen. Obwohl die Stadt ihren Zauber hat, scheint mir die Stimmung hier im Restaurant angespannter als im Zug. Vielleicht sind wir inzwischen alle so an unser kleines Universum mit dem Tisch als Mittelpunkt gewöhnt, auf dem Weg an ein bestimmtes Ziel, dass wir

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