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Aleph

Aleph

Titel: Aleph Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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desjenigen, der eine der exklusiven englischen Schulen besucht hat. Sein Tonfall ist kühl, aber nicht aggressiv.
    Nur ein Narr droht. Nur ein anderer Narr fühlt sich bedroht. Wenn jemand in diesem Ton spricht, bedeutet das Gefahr, denn den Worten können bei Bedarf schnell Taten folgen.
    »Sie haben sich das falsche Restaurant ausgesucht«, fährt er fort. »Hier ist das Essen schlecht und der Service noch schlechter. Sie sollten sich besser etwas anderes suchen. Die Rechnung geht auf mich.«
    In der Tat ist das Essen nicht besonders gut, der Wodka kündigt schon jetzt die Nebenwirkungen an, vor denen uns der junge Mann gewarnt hat, und die Bedienung könnte unfreundlicher nicht sein. Aber hier sorgt sich niemand um unsere Gesundheit oder unser Wohlergehen, wir werden schlicht und ergreifend hinausgeworfen.
    »Lasst uns gehen«, sagt der junge Mann.
    Ehe wir uns versehen, sind er und seine Freunde verschwunden. Der Mann wendet sich zufrieden ab und will zu seinem Tisch zurückgehen. Für den Augenblick ist die Spannung gewichen.
    »Mir schmeckt das Essen hier sehr gut, und ich habe keineswegs vor, das Restaurant zu wechseln.«
    Yao sagt das mit der gleichen emotionslosen Stimme wie der Mann vom Nebentisch und ebenfalls ohne die Spur einer Drohung. Es gab keinen Grund für eine solche Äußerung, das Problem hatte nur die jungen Männer betroffen - wir hätten in Ruhe zu Ende essen können. Der Mann dreht sich zu Yao um. Einer seiner Begleiter holt sein Handy hervor und geht hinaus. Die Gespräche im Restaurant verstummen.
    Yao und der Fremde blicken sich unverwandt in die Augen.
    »An einer Lebensmittelvergiftung kann man auch sterben.«
    Yao rührt sich nicht.
    »Glaubt man der Statistik, sind in den drei Minuten, die wir miteinander geredet haben, dreihundertzwanzig Menschen auf der Welt gestorben und sechshundertfünfzig wurden geboren. So ist das Leben. Ich weiß nicht, wie viele davon an einer Lebensmittelvergiftung gestorben sind, ein paar waren es ganz bestimmt. Andere erlagen einer langen Krankheit, wieder andere hatten einen tödlichen Unfall, einige Mütter sind im Kindbett gestorben, während ihre neugeborenen Kinder Teil der Geburtsstatistik wurden, und sicher sind auch ein paar Prozent erschossen worden. Nur die Lebenden sterben.«
    Der Mann mit dem Handy, der hinausgegangen ist, kommt wieder herein. Derjenige, der an unserem Tisch steht, verzieht keine Miene. Eine Ewigkeit scheint niemand im Restaurant zu sprechen.
    »Eine Minute«, sagt schließlich der Fremde. »Da werden noch weitere hundert gestorben sein und etwa zweihundert geboren.«
    »Genau.«
    Zwei Männer erscheinen in der Tür des Restaurants und kommen auf unseren Tisch zu. Der Fremde schickt sie mit einer Kopfbewegung wieder hinaus.
    »Auch wenn das Essen schlecht ist und der Service miserabel, haben Sie sich dieses Restaurant ausgesucht, daran kann ich nichts ändern. Guten Appetit.«
    »Danke. Und da Sie sich schon bereit erklärt haben, die Rechnung zu bezahlen, nehmen wir das dankend an.«
    »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, erwidert er in Yaos Richtung, als gäbe es sonst niemanden im Raum. Er steckt die Hand in die Tasche, und wir sehen ihn schon eine Waffe ziehen, aber es kommt nur eine harmlose Visitenkarte zum Vorschein.
    »Sollten Sie irgendwann mal einen Job brauchen oder Lust auf ein bisschen Veränderung haben, wenden Sie sich an uns. Unsere Immobilienfirma hat mehrere Niederlassungen hier in Russland, und wir brauchen Leute wie Sie. Leute, die begriffen haben, dass der Tod nur eine Statistik ist.«
    Er reicht Yao die Visitenkarte, die beiden geben einander die Hand, und der Fremde kehrt an seinen Tisch zurück. Allmählich kommt wieder Leben in das Restaurant, die Gäste setzen ihre Unterhaltungen fort, und wir alle blicken staunend auf Yao, unseren Helden, der den Feind besiegt hat, ohne eine einzige Kugel abzufeuern. Auf einmal scheinen sich alle brennend für ausgestopfte Vögel und die Qualität mongolisch-sibirischen Wodkas zu interessieren. Sogar Hilals Laune ist mit einem Schlag besser, und sie lässt sich auf das vollkommen unsinnige Gespräch ein. Der Adrenalinschub, ausgelöst von der Angst, hat uns von einem Augenblick auf den anderen nüchtern werden lassen.
    Ich muss diese Gelegenheit nutzen. Yao kann ich später noch fragen, warum er seiner selbst so sicher gewesen ist.
    »Ich bin vom Vertrauen des russischen Volkes in die Religion beeindruckt. Siebzig Jahre lang hat der Kommunismus gepredigt, sie sei

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