Aleph
weiterhelfen, sondern könnte ihr sogar schaden. Wir haben noch etliche Tage vor uns, ich werde schon einen Weg finden, wie ich erklären kann, was uns verbindet, ohne dass sie all die Schmerzen noch einmal erleben muss.
Das Einfachste wäre, sie weiterhin im Dunkeln zu lassen und gar nichts zu erzählen. Aber ich habe das Gefühl, dass die Wahrheit sie auch von vielem befreien wird, das sie in ihrem gegenwärtigen Leben belastet. Ich habe mich nicht von ungefähr auf meine Reise begeben, als alles um mich herum zu stagnieren drohte und mein Leben nicht mehr wie ein Fluss zum Meer hin strömte. Und dass es ihr ähnlich erging, ist ebenfalls kein Zufall.
Also muss Gott mir helfen, diesen Weg zu finden. Mit jedem Tag, der vergeht, erleben alle in unserem Waggon, wie ihr Leben auf einer neuen Stufe ankommt: Meine Lektorin wirkt jetzt nicht mehr so unnahbar und auch weniger angriffslustig. Auch für Yao, der in diesem Moment neben mir steht, eine Zigarette raucht und die Menschen auf der Tanzfläche betrachtet, ist es zweifellos ein Gewinn, dass er sein eigenes Wissen auffrischen konnte, indem er mich an Vergessenes erinnerte. Wir haben den Vormittag in einem Sportstudio zugebracht und Aikido geübt. Zum Schluss sagte er:
»Wir müssen jederzeit auf Angriffe des Feindes vorbereitet sein und darauf, dem Tod ins Auge zu sehen, damit das Wissen um unsere Sterblichkeit unseren Weg erleuchtet.«
Ueshiba hat viele Sätze hinterlassen, die die Schritte derjenigen auf dem Weg des Friedens lenken. Aber Yao hat einen ausgewählt, der unmittelbar mit einem Erlebnis der vorangegangenen Nacht zusammenhängt: Während Hilal in meinen Armen lag, sah ich ihren Tod, und das Wissen darum erleuchtete meinen Weg.
Auch Yao scheint in Parallelwelten überwechseln und nachvollziehen zu können, was gerade mit mir geschieht. Obwohl er von all meinen Reisegefährten derjenige ist, mit dem ich mich zurzeit am meisten austausche - Hilal spricht immer weniger mit mir, obwohl wir zusammen Außergewöhnliches erlebt haben -, kenne ich ihn kaum. Ich glaube, es hat wenig gebracht, ihm zu sagen, dass die Menschen, die wir lieben, nicht verschwinden, sondern nur in eine andere Dimension überwechseln. Seine Gedanken sind wohl noch immer ganz auf seine Frau fixiert, und alles, was ich jetzt noch tun kann, ist, den Kontakt mit einem mir bekannten hervorragenden Medium in London herzustellen. Dort wird er alle Antworten finden, die er braucht, und alle Zeichen, die bestätigen, was ich über die Ewigkeit der Zeit gesagt habe.
Meine Entscheidung, Asien im Zug zu durchqueren, mag spontan gewesen sein, aber ich bin sicher, dass jeder von uns einen Grund hat, warum er oder sie heute in Irkutsk ist. Erlebnisse wie dieses sind nur möglich, wenn alle Beteiligten sich schon irgendwo irgendwann begegnet und auf einem gemeinsamen Weg sind.
Hilal tanzt mit einem Mann in ihrem Alter. Sie wirkt aufgekratzt, hat ein bisschen zu viel getrunken und bereits mehr als einmal an diesem Abend bereut, dass sie ihre Geige nicht mitgebracht hat. Das ist auch wirklich schade. Die Leute hier hätten es verdient, von der großen Ersten Geigerin eines der renommiertesten Konservatorien Russlands verzaubert zu werden.
***
Die mollige Sängerin tritt von der Bühne ab, die Musikgruppe spielt weiter, und bald hüpft das Publikum im Saal herum und schreit »Kalaschnikow! Kalaschnikow!«, den Refrain zu Goran Bregovics gleichnamigem Song. Wäre dessen Musik hier nicht so bekannt, müsste es für jeden Passanten wie eine Party von Terroristen klingen.
Der junge Mann und Hilal halten sich eng umschlungen, und es sieht so aus, als würden sie sich gleich küssen. Doch anders als meine Reisegefährten jetzt vermutlich denken, bin ich kein bisschen eifersüchtig.
Im Gegenteil. Ich finde es wunderbar.
Wenn sie doch nur einen Mann fände, der sie glücklich macht und nicht versucht, ihre brillante Karriere zu unterbinden; jemanden, der sie bei Sonnenuntergang in den Arm nimmt und nie vergisst, das heilige Feuer zu entzünden, wenn sie Hilfe braucht. Sie hätte es so verdient.
»Ich kann diese Male auf Ihrem Körper heilen«, sagt Yao, während wir auf die Tanzenden schauen. »Die chinesische Medizin kennt ein Mittel dagegen.«
Nein. Das kann nicht sein.
»So schlimm ist es gar nicht. Sie kommen und gehen in immer unregelmäßigeren Abständen. Das nummuläre Ekzem ist nicht heilbar.«
»In China sagt man, sie tauchen nur bei Menschen auf, die als Soldaten in einem
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