Alera 01 - Geliebter Feind
mir bewusst, dass er einer der wenigen Menschen war, die gewillt wären, so ein Thema mit mir zu bereden. »Weißt du, wie der Krieg begann? Ich habe zwar schon viel über denKrieg selbst gehört, aber noch nichts über seine Anfänge.«
Narian lachte, weil ihm wahrscheinlich klar wurde, wie unangemessen eine solche Frage für eine Hytanierin war. Ich sah ihn an, und seine Miene war so sanft und offen, dass ich mir ganz sicher war, bis tief in seine Seele schauen zu können.
»Ich kann dir nur sagen, was die Cokyrier für den Auslöser des Krieges halten«, erwiderte er und aus seiner Stimme klang eine Spur Amusement.
Ich nickte eifrig und lehnte mich, bereit, ihm zuzuhören, wieder an seine Schulter.
»Vor über hundert Jahren schickte der König von Hytanica seinen ältesten Sohn und Thronerben als Botschafter nach Cokyri, um ein Handelsabkommen zwischen den beiden Königreichen vorzuschlagen. Hytanica beabsichtigte, unserem bergigen Reich eine Vielzahl von Feldfrüchten im Austausch gegen Edelsteine und kostbare Metalle, die wir schürften, anzubieten. Leider wurde die engstirnige Sichtweise des Botschafters, wonach Frauen den Männern grundsätzlich unterlegen wären, nicht gut aufgenommen. Als man ihn vor die Kaiserin von Cokyri führte, beleidigte er sie, indem er sich rundheraus weigerte, mit einer Frau zu verhandeln. Die Kaiserin ließ ihn als Vergeltung für diese Kränkung hinrichten, und als die Hytanier von seinem Tod erfuhren, war der König außer sich und griff Cokyri mit aller Macht an. Wir hielten dagegen, und so eskalierte die Auseinandersetzung.«
»Ein Morden über hundert Jahre hinweg, weil ein Mensch einen anderen gekränkt hat?« Ich richtete mich gerade auf und musterte Narian entsetzt. »Warum wurde das schlechte Benehmen des Botschafters denn überhaupt so brutal geahndet?«
Narian echauffierte sich über meinen vorwurfsvollen Ton. »Die Kaiserin von Cokyri war eine stolze und würdevolle Frau. Sie verlangte Respekt und Gehorsam, und wer ihr den versagte, für den gab es keine Gnade. Der Botschafter des Königs hätte sich eben mit unseren Gepflogenheiten vertraut machen müssen, bevor er damals vor unsere Herrscherin trat. Es war eine doppelte Beleidigung, dass er das offenbar nicht für nötig erachtet hatte. Doch seiner Arroganz wurde rasch und hart Einhalt geboten – mit der Todesstrafe.«
»Und hat seit jenen Tagen niemand mehr versucht, einen Vertrag auszuhandeln?«, forschte ich eindringlich nach und war von der Geschichte ebenso abgestoßen wie fasziniert.
»Die Nachfahren der Kaiserin, die Hohepriesterin und der Overlord, machten sich den Hass ihrer Ahnen auf Hytanica sogleich zu eigen. Der Overlord würde sich auf keinen Vertrag einlassen, weil er ganz und gar entschlossen ist, dieses Land zu erobern.«
Darauf fiel mir keine Entgegnung ein, also zupfte ich am Heu herum und lauschte auf das Schnauben und Scharren der Pfede im Stall. Dann hob Narian seine Augenbrauen, sah mich an und stellte mir eine Frage: »Wo führt der Tunnel hin?«
Ich sah ihn erstaunt an. »Woher weißt du von dem Tunnel?«
»Ehrlich gesagt wusste ich bis vorhin nicht genau, ob es einen Tunnel gibt. Vor einiger Zeit habe ich bemerkt, dass der Boden in einer der unbenutzten Boxen stärker nachgibt als im übrigen Stall und habe schlicht vermutet, dass sich darunter ein Tunnel zur Flucht verbergen könnte. Und soeben hast du mir diese Überlegung bestätigt.«
Ich rang um meine Fassung und fühlte mich einwenig gekränkt, weil er solche Tricks benutzte, um Informationen von mir zu bekommen. Doch bevor ich etwas sagen konnte, wiederholte er seine Frage.
»Also, wohin im Palast führt der Tunnel?«
Meine Gedanken rasten, weil ich wusste, dass ich diese Information keinesfalls preisgeben sollte. Nur sehr wenige Menschen wussten überhaupt, dass es sogar zwei Tunnel gab, die aus dem Palast herausführten. Sie waren für den Fall gedacht, dass die königliche Familie den Palast schnell oder unbemerkt verlassen musste. Andererseits wusste Narian ja bereits von der Existenz eines Tunnels und würde zweifelsohne bald auch den Eingang dazu im Schloss finden. Während ich noch um eine Entscheidung rang, merkte ich, dass er mich unverwandt ansah.
»Alera«, beruhigte er mich. »Du musst mir nichts erzählen, wenn du meinst, es besser nicht tun zu sollen. Vergessen wir einfach, dass ich überhaupt danach gefragt habe.«
Er lächelte mich aufmunternd an, legte wieder seinen Arm um mich, und ich lehnte mich
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