Alera 01 - Geliebter Feind
Dann kam Narian weiter auf mich zu. Mein Puls beschleunigte sich, allerdings nicht aus Furcht. Ich hatte mich schon lange danach gesehnt, mit ihm allein zu sein, aber auf die Sehnsucht, die jetzt in mir aufloderte, war ich völlig unvorbereitet.
Seine unwiderstehlichen Augen auf mein Gesicht gerichtet, streckte Narian eine Hand aus und fasste mich am Kinn. Dann beugte er sich zu mir herab undliebkoste meinen Mund mit seinen Lippen. Ich leistete keinen Widerstand, und so legte er eine Hand auf meinen Rücken, zog mich an sich und presste seinen Mund leidenschaftlich auf meinen. Ich schloss die Augen, hob die Arme zu seinen Schultern und fuhr mit den Fingern in seine dicken blonden Locken, während ich seinen Kuss erwiderte.
Nach ein paar Augenblicken löste er seine Lippen von meinen und strich mir damit über die Stirn.
»Ich begann schon zu glauben, ich hätte mir das nur eingebildet«, flüsterte er in mein Ohr.
Ich schmiegte mich an seine Brust, während er mich im Arm hielt, und sein kräftiger, erdiger Duft nach Leder, Kiefern- und Zedernholz umfing mich. Dann kehrte meine Vernunft langsam zurück und die Unschicklichkeit der Umstände wurde mir bewusst. Hier war ein Mann in meinem Schlafzimmer, nach Einbruch der Dunkelheit, der seine Lippen auf meine gelegt hatte und in dessen Umarmung ich mich noch befand, und weit und breit keine Anstandsdame. Ich zwang mich, einen Schritt zurückzutreten, und Narian strich mit seinen Händen meine Arme hinab und verschränkte seine Finger mit den meinen.
Er fragte nicht nach einer Erklärung, warum ich mich zurückgezogen hatte, denn wahrscheinlich war auch ihm das Unziemliche an meiner Haltung aufgefallen. Stattdessen führte er mich zu den Balkontüren, drehte sich zu mir um und lächelte verschmitzt.
»Wollen wir?«
»Ich weiß nicht, was du meinst«, erwiderte ich zögernd, aber neugierig.
»Ich kann dich hier herausbringen.«
Obwohl meine Vernunft sich dagegen wehrte, war die Vorstellung, etwas Gewagtes und Impulsives zuunternehmen, einfach zu verlockend, vor allem in Anbetracht meines Verbündeten. Also nickte ich.
Narian hob einen Sack vom Boden auf und öffnete ihn, dann warf er mir etwas Schwarzes zum Anziehen zu.
»Zieh das hier an und bring mir eines deiner einfachen Kleider, das du später anziehen kannst.«
Ich brachte ihm ein schlichtes Leinenkleid und begab mich dann zum Umziehen in mein Badezimmer. Durch meinen Selbstverteidigungsunterricht war ich an Männerhosen ja bereits ein wenig gewohnt und fand es nicht allzu befremdlich, auch jetzt welche zu tragen. Vor jedem anderen Menschen außer Narian wäre ich mir darin allerdings dennoch eigenartig vorgekommen.
Als ich wieder an die Balkontüren trat, hatte Narian seinen schwarzen Umhang abgenommen und zog seine langärmelige schwarze Lederjacke aus. Er gab sie mir, damit ich weniger fror. Dann legte er sich den Umhang wieder um und verbarg seine Haare unter der Kapuze. So war er gegen den Nachthimmel fast unsichtbar. Für mein dunkles Haar brauchte ich keine Kopfbedeckung.
Narian kauerte sich nieder und öffnete die Balkontüren. Dann gab er mir ein Zeichen, und geduckt schlüpften wir gemeinsam in die kalte Nachtluft hinaus. Er schloss die Tür hinter uns und hob ein aufgerolltes Seil auf, das er benutzt hatte, um zu meinem Zimmer heraufzuklettern. Ein Ende davon knotete er zu einer Schlaufe.
»Schieb deinen Fuß hier hinein«, sagte er und hielt sie mir hin.
Im Stehen schob ich einen Fuß durch die Schlaufe. Dann band er das Seil um meinen Rumpf und knotete das lose Ende ans Geländer.
»Ich werde dich abseilen«, ließ er mich wissen, »aber erst einmal müssen wir warten.«
Er zeigte auf den Turm an der Ecke der Mauer, die den Innenhof umgab, und ich sah die Patrouille auf dem mit Holzplanken belegten Gang, der vom Turm aus in zwei Richtungen führte. Der Wachmann war soeben an der Ecke umgekehrt und ging jetzt die Westseite der Mauer entlang in Richtung Norden auf uns zu.
Narian zog mich in den Schatten der Mauer und wir verharrten unbeweglich, bis der Posten umkehrte und in südliche Richtung marschierte. Wenn er die Ecke erreicht hätte, würde er durch den Turm hindurch und weiter nach Osten an der langen vorderen Hofmauer entlang und bis zu dem Punkt gehen, wo der zentrale Innenhof begann.
Narian hob mich mühelos über das Geländer und ließ mich hinunter. Meine Hände zitterten und mein Herz klopfte heftig, bis meine Füße den Boden berührten und ich wusste, dass ich in
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