Alera 01 - Geliebter Feind
erneut an seine Brust. Während mein Unbehagen schwand, fiel mir etwas anderes ein, das mich beschäftigte.
»Ich war noch nie in den Bergen«, murmelte ich. »Erzähl mir, wie es dort aussieht.«
Narian begann, die raue Schönheit des Landes zu beschreiben, in dem er gelebt hatte. Und hinter seinen Worten spürte ich eine schwache Sehnsucht. Der gleichmäßige Singsang seiner Stimme und der süße Duft des Heus hüllten mich ein. Bald fielen meine Lider wie schwere Vorhänge zu. Bevor ich endgültig in seinen Armen geborgen in den Schlaf hinüberglitt, kam noch ein Flüstern über meine Lippen.
»Der Tunnel führt in die Kapelle.«»Alera, Alera, wach auf!«
Narians Stimme durchdrang nach und nach die vielen Schichten meines Schlafes, bis ich, noch leicht benommen, die Augen aufschlug. Einen Moment lang war ich ohne Orientierung, doch als ich sah, wie er aus einem der Stallfenster schaute, fiel mir schlagartig die vergangene Nacht wieder ein, und ich war hellwach. Wir mussten in den Palast zurück.
»Du solltest dich umziehen«, empfahl Narian und drückte mir das Kleid in die Hand, das er für mich mitgenommen hatte. »Wir müssen hier weg, bevor die Stallburschen ihr Tagwerk beginnen.«
Ich nickte und blickte mich nach einem Platz um, wo ich nicht zu sehen war. Nachdem ich nichts Besseres fand, betrat ich eine leere Box und kam ein paar Minuten später in meinem einfachen, cremefarbenen Kleid wieder heraus. Narian hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Ich gab ihm die schwarzen Sachen zurück, die er wieder in seinem Beutel verstaute.
Nach dem grauen Licht zu schließen, das durchs Fenster hereinfiel, ging gerade die Sonne auf.
»Wie sollen wir wieder in den Palast gelangen?«, fragte ich ihn mit einem Anflug von Panik.
»Durch das Haupttor.«
Weil mir keine bessere Möglichkeit einfiel, nickte ich nur und hoffte, dass er wusste, was er tat. Er streckte die Hand aus und zupfte mir ein wenig Heu aus den Haaren. Vor Verlegenheit wurde ich rot.
»Ich fürchte, ich sehe nicht gerade vorzeigbar aus.«
Er lächelte liebevoll, dann nahm er meine Hand und zog mich an sich.
»In Hosen gefällst du mir besser«, scherzte er und hob mein Kinn an, um mir einen schnellen Kuss zu geben. »Aber abgesehen davon siehst du genau richtig aus.«
Ich schauderte, und er legte mir sein Cape um, während er wieder in seine Lederjacke schlüpfte. Dann zog er die Stalltür auf und wir spazierten durch das gefrorene Gras, das unter unseren Füßen knirschte, auf das Haupttor zu.
»Halt! Nennt Euer Anliegen!«
Eine der Palastwachen hielt uns an, doch bevor ich antworten konnte, hatte der Mann mich bereits erkannt und riss vor Staunen die Augen auf.
»Prinzessin! Prinzessin Alera! Was macht Ihr …? Wie seid Ihr …? Wo seid Ihr …?«
»Ein herrlicher Morgen für einen Spaziergang, nicht wahr?«, unterbrach Narian ihn freundlich.
»Ja, natürlich«, erwiderte der Wachmann und ließ seinen Blick zwischen mir und Narian hin und her wandern. Dann hämmerte er an das Tor und wies die Wache auf der anderen Seite an, uns augenblicklich einzulassen.
Als die Torflügel sich öffneten, richtete ich die Augen nach oben und sah, dass die Turmwachen ebenso verwirrt auf uns herunterstarrten. Weil die ganze Situation geradezu grotesk war, senkte ich rasch den Kopf, damit die Soldaten mein Grinsen nicht sahen.
Dann gingen wir über den weiß gepflasterten Weg durch den Innenhof bis zum vorderen Eingang des Palastes, wo sich eine ähnliche Szene abspielte. Nachdem man uns schließlich eingelassen hatte, betraten wir die Große Halle und ich hoffte, noch früh genug dran zu sein, sodass wir keinem der Leibwächter der Königsfamilie begegnen würden. Denn diese würden uns mit Sicherheit weit unangenehmere Fragen stellen als die Nachtschicht der Patrouillen auf den Fluren des Schlosses. Wir stiegen die Prunktreppe hinauf und begaben uns nach einer geflüsterten Verabschiedung in verschiedeneRichtungen. Ich begab mich zu meinen Gemächern und Narian auf die Rückseite des Palastes zu der Treppe, die zu den Gästezimmern im dritten Stock führte.
Mir war ganz schwindelig, als ich meinen Salon betrat – vor Müdigkeit, vor Glück und vor Schreck über unser gewagtes Abenteuer. Ich ging in mein Schlafzimmer, wo ich sogleich ins Bett schlüpfte. Nicht um zu schlafen, sondern damit weder meine Zofe noch meine Leibwächter Verdacht schöpfen sollten. Solange keine der Wachen unser Auftauchen zu so ungewöhnlich früher Stunde Cannan, Kade
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