Alera 01 - Geliebter Feind
wird gut. Er ist doch nur ein weiterer Verehrer, und wie alle anderen muss er dich beeindrucken, nicht umgekehrt. Aber ganz nebenbei, soweit ich das beurteilen kann, hast du ohnehin kein Interesse an ihm, also begreife ich gar nicht, warum du so außer dir bist.«
»Du verstehst das nicht«, erwiderte ich aufbrausend. »Wenn der heutige Abend unerfreulich verläuft, wird Vater schrecklich enttäuscht sein.«
»Nun, falls du nicht vorhast, Steldor zu heiraten, wird dein Vater ohnehin über kurz oder lang enttäuscht sein.«
Ich unterbrach mein Auf-und-ab-Laufen und schaute London ins Gesicht. Er hatte das Buch zurück auf den Tisch gelegt und lehnte mit vor seiner kräftigen Brust verschränkten Armen an der mit einer Tapisserie bespannten Wand neben der Tür. Widerspenstige silberne Locken fielen ihm in die Stirn und bildeten einen scharfen Kontrast zu seinen tiefliegenden indigofarbenen Augen, die in Erwartung einer Antwort auf mich gerichtet waren.
»Ich kann ihn nun mal nicht ausstehen! Wie soll ich da einen ganzen Abend mit ihm verbringen?«
»Es ist doch nur ein einziger Abend. Den wirst du schon überstehen.« London zögerte, dann fügte er noch hinzu: »Ich hoffe natürlich, dass du das romantische Zusammentreffen nach dem Essen fortsetzen wirst – das Wetter ist schließlich ideal für einen Mondscheinspaziergang durch den Garten.«
»Das wird er doch wohl nicht von mir erwarten, London?« Obwohl ich wusste, dass London mich nurneckte, konnte ich einer so schrecklichen Aussicht nichts Lustiges abgewinnen. Sofort versuchte er, die neue Sorge, die ich mir wegen seiner Bemerkung machte, zu zerstreuen.
»Falls er dergleichen im Sinn hat, sagst du ihm einfach, du würdest dich nicht wohlfühlen und sofort in deine Gemächer zurückkehren wollen. Dagegen kann er nichts einwenden.«
Ich sank auf einen der reich verzierten Lehnsessel nah am Kamin, vergrub den Kopf in meinen Händen und stöhnte. Mein Vater, König Adrik, hatte dieses Abendessen für mich und Lord Steldor arrangiert, da er den jungen Mann als meinen zukünftigen Gemahl favorisierte. Er vertraute Steldor und hielt ihn unter allen Männern seines Reiches für den besten Nachfolger. Als Thronerbin hatte ich meine Heirat nur darauf auszurichten, denn nicht ich, sondern mein Ehemann würde Hytanica regieren.
Selbst ich musste zugeben, dass Steldor die erste Wahl war. Der Sohn von Cannan, dem Hauptmann der Elitegarde, war dreieinhalb Jahre älter als ich und ein Jahr zuvor, mit gerade einmal neunzehn, Kommandant geworden. Er war charmant, klug, stark, ausgesprochen gut aussehend, nur war er mir leider von dem Moment an, als wir uns das erste Mal gesehen hatten, unsympathisch.
Lautes Klopfen an der Tür riss mich aus meinen Gedanken, während London auf den Flur trat, um mit dem Diener zu sprechen, den man geschickt hatte, mich zu holen.
»Wir sollten uns auf den Weg machen«, sagte er, als er zurück ins Zimmer kam. »Steldor ist eingetroffen und erwartet dich in der Großen Halle.«
London hielt mir die Tür auf und begleitete michdurch die Flure im zweiten Stock des Schlosses zum privaten Treppenaufgang meiner Familie im hinteren Teil des Palastes. Außer meinen Gemächern, denen meiner Schwester und meiner Eltern umfasste die Residenz noch eine Bibliothek, ein Esszimmer für die Familie, eine Küche und ein Studierzimmer, das auch als Salon diente. Der königliche Ballsaal und der Speisesaal des Königs wurden als einzige Räumlichkeiten im zweiten Stock für offizielle Anlässe genutzt.
Wir stiegen die Wendeltreppe hinunter, und London bot mir seinen Arm an, um mich durch den von Laternen erleuchteten Gang zum Haupteingang des Palastes zu begleiten. Dabei schenkte ich den kostbaren Tapisserien, die die Wände schmückten, kaum einen Blick, denn meine Aufmerksamkeit galt Steldor, der mich am Ende des Ganges erwartete. Er stützte sich lässig mit der Linken an die Wand, während er mit der Rechten beständig und geschickt einen Dolch in die Luft warf und wieder auffing. Er hatte offensichtlich die für die Augen der Betrachter ansprechendste Haltung eingenommen.
»Viel Vergnügen«, sagte London und blieb auf halber Strecke stehen, da Steldor mich bereits entdeckt hatte.
»Du bleibst doch in der Nähe?«, fragte ich mit leicht zitternder Stimme.
»Sicher, denn ich möchte wetten, dass du heute mehr Schutz benötigst als bei den meisten anderen Anlässen. Außerdem wäre ich ja sonst ein ziemlich miserabler Chaperon. Aber natürlich
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