Alera 02 - Zeit der Rache
gewusst hätte, dass er noch am Leben ist … dann hätte ich etwas tun müssen, irgendwas. Ich hätte ihn retten sollen, lange, bevor der Overlord Gelegenheit hatte, ihm das anzutun. Die ganze Zeit über hat er gelitten, und ich weiß, was es heißt, in der Gewalt des Overlord zu leiden.«
»London«, stieß ich hervor und wusste nicht recht, was ich sonst noch sagen sollte, so schockiert und traurig war ich über Destaris Tod. Wie konnte er nur dieses Erlebnis für sich behalten haben, und sei es auch nur für die vergangenen paar Stunden? Destari war einer meiner treuesten Leibwächter gewesen, aber vor allem war er Londons bester Freund noch aus der Zeit, bevor die beiden gemeinsam die Kadettenanstalt besucht hatten. Sie hatten zusammen ihre militärische Laufbahn absolviert. Und ihn dann auf so schreckliche Weise sterben sehen zu müssen … Ich vermochte es kaum zu begreifen. Allein der Gedanke daran verursachte mir Übelkeit, und ohne lange nachzudenken, streckte ich die Hand nach ihm aus. Ich sehnte mich danach, ihn zu trösten, doch er stieß meine Hand fort.
»Ich beschütze jeden«, konstatierte er. »Das ist meine Aufgabe, und das habe ich immer schon gemacht. Aber ihn habe ich im Stich gelassen.«
»Du hast Destari doch nicht getötet«, sagte ich irritiert. Wie konnte er sich nur selbst die Schuld daran geben? »Es war sogar besser, nicht zu wissen, dass er noch am Leben war, denn du hättest nicht zurückkehren und ihn befreien können. Das wusste er auch, London. Destari wusste es schon, als eure Wege sich damals im Palast getrennt haben. Und er wusste es ganz sicher, als er sich dem Feind zum Verhör auslieferte. Du hast ihn nicht im Stich gelassen oder verraten. Und komm ja nicht auf den Gedanken, dir die Verantwortung für die Untaten des Overlord aufzubürden. Es war seine Hand, durch die Destari gestorben ist, nicht deine. Seine Brutalität ist der Grund für all das, und es ist einzig dein großes Mitgefühl, das dich veranlassen könnte, Schuld auf dich zu nehmen, die allein bei ihm liegt. Das wäre doch schrecklich ungerecht!«
Ich wünschte mir so sehr, dass er meine Worte beherzigen und seine Seelenqual dadurch leichter würde. Wieder verspürte ich diesen überwältigenden Hass auf den Overlord – er riss uns alle auseinander, unsere Gefühle und unsere Körper. Bald würde ich London nie mehr wiedersehen, und nun hinderte der Overlord uns sogar daran, unsere letzten gemeinsamen Stunden in Frieden miteinander zu verbringen.
»Er hat den Leichnam einfach liegen gelassen«, sagte London nach einer ganzen Weile. »Ich habe ihn begraben, nachdem sie fort waren.«
Ich kümmerte mich nicht darum, dass London meine Hand zuvor abgeschüttelt hatte. Jetzt hob ich seinen Arm und legte ihn mir um die Schulter, denn ich wusste, dass er meine Nähe ebenso nötig brauchte wie ich die seine.
Am nächsten Morgen brachen wir früh auf, um den Overlord zu treffen. Ich begleitete London aus zwei Gründen: Erstens weil ich die Königin Hytanicas war, zweitens weil ich nicht den kleinsten Augenblick mit ihm versäumen wollte. Es war mir ein Anliegen, ihm noch einmal zu zeigen, wie sehr ich an ihm hing und dass ich seinen Mut über die Maßen schätzte. Cannan ließ seinen Sohn in Galens fürsorglicher Obhut zurück, um uns zu begleiten. Auch dies eine Geste des Respekts für den Mann, der bereit war, sein Leben freiwillig für unsere Sache zu opfern.
Als wir ankamen, nachdem wir erneut einen weiten Umweg gemacht hatten, traten wir auf die Lichtung und verließen uns ganz auf Londons Einschätzung der Reaktion des Feindes. Er war sich sicher, dass die Cokyrier die Lichtung längst überwachten. Er war auch überzeugt, dass niemand versuchen würde, uns anzugreifen, sondern dass der Overlord uns freien Abzug gewähren würde, bis seine Schwester in Sicherheit wäre.
»Sagt eurem Anführer, er soll das ehemalige Königspaar herbringen lassen«, rief London den uns umgebenden unsichtbaren cokyrischen Soldaten zu. »Wir sind gekommen, um sie auszutauschen.«
Es gab keine Antwort, aber damit hatten wir auch nicht gerechnet. Danach warteten wir etwa eine Stunde lang. Schweigend, frierend und wachsam. Dann hörten wir unseren Feind sich nähern. Er war in Begleitung gekommen, erschien jedoch allein auf der Lichtung, und zwar zu Fuß.
»Was soll das?«, verlangte der Overlord zornig zu erfahren, als er uns drei erblickte und begriff, dass wir seine Schwester nicht dabeihatten.
»Habt Ihr König Adrik und
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