Alera 02 - Zeit der Rache
mich selbst zu beruhigen. Doch dann machte ich mir sofort klar, dass auch ein wildes Tier durchaus ein Grund zur Beunruhigung war. Ich hatte zwar nie viel Zeit in den Wäldern verbracht, aber ich wusste, dass dort Wildschweine und Bären hausten. Was, wenn so ein Tier mich angriff? Instinktiv wäre ich am liebsten auf dem Felsen in Richtung Fluss zurückgewichen, doch die Gefahr, die dort auf mich lauerte, war vermutlich größer als die Bedrohung durch welches Tier auch immer, das hinter den Bäumen lauerte. Als sich das Geräusch nicht wiederholte, begann meine Anspannung nachzulassen. Dafür fiel mir ein, dass ich eben diesen Wald durchqueren musste, um zurück zum Haus des Barons zu gelangen.
4. SCHUTZLOS
Ich kletterte eilig von den Felsen herunter, um den Rückweg durch den Wald anzutreten. Dabei stellte ich fest, dass es in dem dämmrigen Licht deutlich schwerer war, den Pfad überhaupt zu erkennen. Ich zögerte, weil es mir widerstrebte, zwischen den Bäumen hindurchzugehen, aber schließlich konnte ich die Nacht nicht schutzlos an den Ufern des Recorah verbringen. Weil mir gar keine andere Wahl blieb, tappte ich zurück zum Landhaus des Barons und hatte dabei das Gefühl, der Wald würde immer dichter und spanne ein Netz aus Dunkelheit um mich.
Im Gehen verschwendete ich keinen Gedanken mehr an meine wunden Füße, dafür erschien mir jedes Geräusch – jeder knackende Zweig, jeder Ruf einer Eule – verdächtig und ließ meinen Puls rasen. Ich hielt durch, auch wenn meine Furcht die Geräusche der Nacht verstärkten, und kam, obwohl ich mich vorsichtig bewegte, um auf dem unebenen Gelände nicht zu stürzen, recht gut voran. Gerade als etwas mehr Mondlicht durch die Dunkelheit drang, weil der Wald sich lichtete, legte sich eine Hand fest auf meinen Mund. Ich konnte weder atmen noch schreien, und eisiger Schrecken ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. So fiel ich rücklings gegen eine muskulöse Brust. Dann spürte ich, wie sich kalter Stahl an die zarte Haut meines Halses presste.
»Wenn ich dreimal geblinzelt habe, hast du mir erklärt, was du hier treibst«, knurrte eine Männerstimme direkt in mein Ohr. Die Hand wurde von meinem Mund genommen und packte mich fest am Oberarm.
Den Tod in Gestalt einer Messerklinge vor Augen und gepeinigt von der Vorstellung, mein eigenes Blut über meine Brust laufen zu sehen, presste ich wenige Worte hervor.
»I-ich habe mich verlaufen«, keuchte ich. »Bitte tut mir nichts!«
Einen schrecklichen Augenblick lang war es ganz still. Dann spürte ich, wie der Dolch von meinem Hals genommen wurde.
»Alera?«
Die Stimme des Mannes klang ungläubig, aber ich hatte zu große Angst, um darüber nachzudenken. Verzweifelt versuchte ich, mich loszumachen, und beachtete zunächst gar nicht, dass der Mann meinen Namen kannte. Da packte er mich mit seiner anderen Hand und drehte mich herum.
»Bitte, ich flehe Euch an, lasst mich gehen«, bettelte ich und fürchtete nicht nur um mein Leben. Ich wehrte mich heftig und wollte meinem Häscher nicht einmal ins Gesicht sehen.
»Alera, schau mich an.«
Als er erneut meinen Namen sagte, brachte seine Stimme mich dazu, meine Gegenwehr einzustellen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und blickte auf. Dort sah ich widerspenstige silberne Stirnfransen über vertrauten Augen, von denen ich selbst im Dunkeln wusste, dass sie indigofarben waren. Da ließ ich mich, schwindelig vor Erleichterung, in seine Arme fallen.
Der Mann, der die meiste Zeit meines Lebens mein Leibwächter gewesen war, hob mich auf seine Arme und trug mich aus dem Wald hinaus und den Hügel hinauf. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Zwar war ich müde, unterkühlt und hungrig, aber unendlich dankbar für seine Gegenwart, denn mit ihm an meiner Seite konnte mir nichts mehr zustoßen. Als wir das Haus erreicht hatten, setzte er mich so ab, dass ich mich mit dem Rücken an eine Mauer lehnen konnte. Ein Schauder überlief mich, was ihm nicht entging.
»Nimm das hier«, sagte er, zog sein Lederwams aus und hängte es um meine Schultern. Das vertraute Kleidungsstück, das er über einem weißen Hemd getragen hatte, hielt noch die Wärme seines Körpers, und ich kuschelte mich dankbar hinein. Ich empfand selbst den Geruch als tröstlich. Die Weste roch nach Leder, Wald, Lagerfeuer – kurz gesagt: nach London.
»Iss das hier«, fügte der noch knapp hinzu und drückte mir etwas in die Hand, das er aus einem Beutel an seinem Gürtel geholt hatte.
Mein Magen
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