Alera 02 - Zeit der Rache
dass mein Neffe kein Engel ist. Und meinen Bruder kenne ich in- und auswendig. Fragt also ruhig.«
»Dann also zu Steldor«, entschied ich und musste an die bizarre Begegnung denken, die ich kurz vor meinem Besuch mit ihm gehabt hatte. »Ich weiß, dass er ein beängstigendes Temperament besitzt und habe es auch schon ein-, zweimal zu spüren bekommen, ehrlich gesagt, hatte ich seinen Zorn da auch verdient. Dennoch hat er noch nie die Hand gegen mich erhoben.« Ich runzelte nachdenklich die Stirn, bevor ich hinzufügte: »Ich weiß, dass mein Vater nach einigen meiner Eskapaden ohne Zögern zum Riemen gegriffen hätte.«
Baelic war aus der Box getreten, lehnte sich an die Tür und widmete mir seine ganze Aufmerksamkeit. Ich fühlte mich zwar ein wenig einfältig, aber dies war tatsächlich eine Frage, die ich gerne beantwortet haben wollte.
»Das ist leicht erklärt. Wie der Vater, so der Sohn. Steldor wird dich nie schlagen, weil auch sein Vater ihn und seine Mutter nie geschlagen hat.«
»Cannan hat Steldor nie geschlagen?«, wiederholte ich staunend.
Körperliche Züchtigung war in Hytanica so verbreitet, dass ein Mann, der seine Frau und seine Kinder nicht gelegentlich schlug, als alt, schwächlich oder verrückt galt. Ich selbst hatte gelegentlich Schläge von meinem für seine Sanftmütigkeit berühmten Vater bekommen, daher fiel es mir schwer zu glauben, dass ein so harter und geachteter Soldat wie Cannan sich dieser Methode nie bedient haben sollte.
»Und das bedeutet nicht, dass Steldor sich immer perfekt betragen hätte. Von den meisten anderen Vätern hätte er sicher einige Prügel bezogen, aber Cannan hat nie die Hand gegen den Jungen erhoben. Und damit wären wir dann wohl bei meinem Bruder angelangt.«
»In der Tat. Warum hat er seinen Sohn denn niemals geschlagen?« Ich trat näher an Baelic heran, als könnte ich die Antwort von seinem Gesicht ablesen.
»Sagen wir mal so, unser Vater hat von dieser Erziehungsmethode zu großzügig Gebrauch gemacht, daher hat Cannan sich geweigert, mit seinem Sohn ebenso zu verfahren. Er fand andere Wege, um Ungehorsam zu ahnden, kreativere, aber meiner Ansicht nach genauso wirkungsvolle. Das heißt nicht, dass Cannan Steldor nicht manchmal am liebsten den Hals umgedreht hätte. Der Junge hat den einzigen Spitznamen, den Cannan ihm je gegeben hat, mehr als verdient.«
»Spitznamen?«, sagte ich neugierig und spitzte die Ohren.
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Steldor selbst überhaupt davon weiß«, antwortete Baelic glucksend, »also sollte ich ihn Euch vielleicht gar nicht verraten.«
»Umso eher sollte ich ihn kennen«, erwiderte ich mit einem schelmischen Grinsen, das ihn davon überzeugen sollte, sein Wissen preiszugeben.
»Also gut, ich denke auch, Ihr solltet ihn kennen. Wenn sein Sohn außer Hörweite ist, dann nennt Cannan den Jungen manchmal Höll-dor.«
Ich lachte vor Begeisterung über diesen Wissensvorsprung und malte mir schon aus, wie ich ihn bei Gelegenheit nutzen würde.
Baelic zeigte mir noch die übrigen Pferde: Shaselles Fuchsstute, einen kleineren dunkelbraunen Wallach, der seinem Sohn Celdrid gehörte, und, nachdem er mich durch die Tür am Ende der Scheune geführt hatte, seinen preisgekrönten Hengst, der mit majestätischer Anmut umhertänzelte und seinen Kopf herumwarf. Das Tier war deutlich größer als Briar und besaß ein glänzendes Fell mit unregelmäßigen weißen und schwarzen Flecken, kräftige Beine und einen kompakten, muskulösen Körper. Baelic musste mich gar nicht erst ermahnen, Abstand zu ihm zu halten, obwohl er selbst den Hals des königlichen Tieres ohne Scheu streichelte.
Auf dem Rückweg durch die Scheune besprachen wir die nötigen Vorkehrungen für einen neuerlichen Besuch, bei dem Baelic mich auf einen Ausritt mitnehmen würde, und verabredeten uns für einen Tag in zwei Wochen.
»Shaselle würde liebend gern mitkommen, falls Ihr nichts dagegen habt. Sie hat schon seit einiger Zeit keinen Ausritt mehr gemacht. Eigentlich seit die Cokyrier am Fluss stehen. Es wird unser erster Ausritt aufs Land seit Langem sein.«
»Ich habe durchaus nichts dagegen«, sagte ich begeistert von der Idee, mich mit einer jungen Frau anzufreunden, mit der mich so viele Interessen zu verbinden schienen. Dann schlug ich einen erstaunten Ton an. »Aber warum ist es denn auf einmal wieder möglich, die Stadt zu verlassen?«
»Die Cokyrier haben sich heute am frühen Morgen zurückgezogen«, erklärte er und warf mir einen
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