Alera 02 - Zeit der Rache
hatte, erstattete der betagte Arzt widerstrebend Bericht.
»Ein Pfeil hat sein linkes Schulterblatt zertrümmert, daher kann er seinen Arm nicht mehr benutzen; der zweite hat einen Lungenflügel durchbohrt, wodurch seine Atmung erschwert wird; der dritte steckt in seinem Bauch und hat schwere innere Blutungen verursacht. Der einzige Grund, aus dem er noch am Leben ist, besteht darin, dass alle drei Pfeile wundersamerweise lebenswichtige Organe verfehlt haben. Dennoch müsste er inzwischen eigentlich verblutet sein, aber die Wunden haben sich um die Pfeilschäfte herum geschlossen und so den Blutverlust gestoppt. Dafür entwickelt sich jetzt eine Infektion, worauf die Schwellung und Rötung und auch sein Fieber hindeuten.«
Nachdem er einen Blick, aus dem tiefstes Mitleid und Bedauern sprach, auf London geworfen hatte, beendete Bhadran seine Einschätzung.
»Man kann die Pfeilspitzen nicht herausziehen. Die einzige Möglichkeit, sie zu entfernen, bestünde darin, sie herauszuschneiden. Allerdings würde das nicht nur die Wunden erneut öffnen, sondern auch weiteren Schaden und unbeschreibliche Schmerzen hervorrufen. Zudem wäre es sinnlos, denn er würde noch während der Operation verbluten. Der einzige Rat, den ich noch geben kann, ist, es ihm so leicht wie möglich zu machen, bis er der Infektion, den inneren Blutungen oder dem Wundstarrkrampf erliegt.«
Erst herrschte Schweigen, dann lächelte London mühsam. »Er scheint einer Meinung mit Euch zu sein, Cannan. Auch er glaubt, dass ich sterben werde.«
Ich hatte Mühe, Luft in meine Lungen zu bringen, und merkte erst jetzt, dass mir Tränen in Strömen über die Wangen liefen. Ich biss die Zähne zusammen, fühlte mich erbärmlich und schwach, weil ich genau wusste, dass es nichts gab, was ich tun konnte. London sah mich mit seinen verschleierten indigofarbenen Augen an, denen man anmerkte, dass er nur noch mit Mühe etwas wahrnehmen konnte.
»Ich will, dass diese Pfeile jetzt herausgezogen werden«, befahl er barsch und mit erstaunlicher Entschlossenheit.
Der Arzt starrte ihn ungläubig an, dann wandte er sich an die anderen Männer im Raum.
»Versucht Ihr, ihm gut zuzureden. Ich werde ihm etwas gegen die Schmerzen geben und damit er zur Ruhe kommt, aber ich will nicht grausam sein. Zu mehr bin ich nicht bereit.«
Bhadran stellte ein Fläschchen auf den Nachttisch, verneigte sich vor Steldor und mir und zog sich zurück. Steldor geleitete mich zurück zu dem Sessel am Kamin und half mir, mich hinzusetzen, denn meine Füße verweigerten mir ihren Dienst. Als ich dort saß, versuchte ich den Schwindel durch langsames Atmen zu vertreiben, aber ich war froh, dass Steldor an meiner Seite blieb und mir eine Hand auf den Arm legte.
London würde sterben. Diese abscheulichen Wunden hatten ihm die Cokyrier zugefügt. Wunden, von denen ich mir wünschte, sie nie gesehen zu haben, würden ihm den Tod bringen. Ein Gefühl tiefer Verlassenheit überkam mich. Bald würde ich zwei lebenslange Begleiter verloren haben – erst Miranna, dann London. Noch dazu war der Mann, den ich liebte, schon lange verschwunden und würde jetzt für seinen ruchlosen Meister kämpfen. Am liebsten hätte ich geschrien und das Schicksal angeklagt, weil alles, was bis vor Kurzem noch meine Welt ausgemacht hatte, so schrecklich aus dem Lot geraten war.
»Destari«, rief London seinen Freund näher zu sich. »Destari, wenn der Arzt sie nicht herausholt, musst du es tun.«
Der imposante Elitegardist zuckte bei dem Vorschlag sichtlich zurück.
»Der Schmerz wäre unerträglich«, argumentierte Destari und schüttelte den Kopf. »London, es tut mir leid, aber ich will nicht derjenige sein, der für deinen –«
»Der Schmerz wird nachlassen, wenn sie erst draußen sind, und egal, was der Arzt meint, ich habe jedenfalls die Absicht durchzukommen«, brummte London. »Ich kann nicht … Ich werde bald wieder das Bewusstsein verlieren, also werde ich sowieso nicht viel spüren. Du musst das für mich tun.«
Destari zögerte und kämpfte mit diesem schrecklichen Dilemma – entweder fügte er seinem Freund grässliche Schmerzen zu oder er ignorierte dessen Bitte, auch wenn es vielleicht die letzte war, die er je an ihn richten würde.
»Es hat keinen Sinn, länger zu warten«, sagte London mit zusammengebissenen Zähnen. »Wenn ich schon sterben muss, dann will ich es wenigstens bei dem Versuch tun zu überleben.«
Destari reckte sich und gab nach. »Also gut.« Dann wandte er sich an
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