Alera 02 - Zeit der Rache
Cannan, London, Destari und ich folgten ihrem Beispiel und bewegten uns auf sie zu. Während ich mich dem Mann näherte, dessen Gesichtszüge ich stundenlang studiert, durch dessen dickes Haar ich mit meinen Fingern gefahren war, den ich öfter geküsst hatte, als ich zählen konnte, war ich wie vor den Kopf geschlagen von der Veränderung, die in gerade einmal sechs Monaten mit ihm vorgegangen war. Er war gewachsen und deutlich breitschultriger geworden. Er war kein Junge mehr, sondern etwa ebenso groß wie Steldor und konnte es auch von seiner Statur her mit meinem Gemahl aufnehmen. Ich fragte mich, welch hartem Training er sich im vergangenen halben Jahr wohl hatte unterziehen müssen, um eine derart dramatische Veränderung zu bewirken. Nur seine durchdringenden stahlblauen Augen waren unverändert. In ihnen suchte ich nach Mitgefühl, das dem warmen Ton seiner goldblonden Haare entspräche, doch die Liebe darin, an deren Anblick ich mich gewöhnt hatte, war durch kalte Zurückhaltung ersetzt, wie ich sie von unseren ersten Begegnungen in Erinnerung hatte.
Obwohl ich mit ihr gerechnet hatte, traf mich Narians Anwesenheit doch tief, und ich konnte die Augen nicht von ihm lassen. Ich fragte mich, ob man mir meine Gefühlsverwirrung wohl ansah. Dieses fast nicht zu bändigende Verlangen, zu ihm zu laufen. Doch gleichzeitig war da die bittere Erkenntnis, dass er jetzt, wie London es gesagt hatte, der Feind war. Dieser Eindruck wurde von der Tatsache verstärkt, dass er mir nun Schulter an Schulter mit den Menschen, die meine Schwester verschleppt hatten, gegenüberstand.
Narian unter den Cokyriern zu sehen, machte Cannans quälende Vermutung plausibel, dass er derjenige gewesen war, der die Existenz des Tunnels verraten hatte. Eine schreckliche Verwirrung bemächtigte sich meiner. Konnte ich Narian lieben, wenn die Vernunft mir doch unmissverständlich gebot, ihn zu hassen? Aber konnte ich ihn hassen, wenn ich selbst jetzt noch panisch auf eine Möglichkeit sann, seine Unschuld an all diesem Unheil zu beweisen? Ich zwang meine Gedanken, zu dem Thema zurückzukehren, das momentan am vordringlichsten war – zu meiner Schwester.
»Habt Ihr Prinzessin Miranna mitgebracht?«, fragte London frostig, als wir gute fünf Meter von den Cokyriern entfernt stehen blieben. Ich bemerkte, dass die grünen Augen der Hohepriesterin wie gebannt auf meinem ehemaligen Leibwächter, ihren früheren Gefangenen, gerichtet waren, obwohl sie meine Anwesenheit verlangt hatte.
Mit einem Wink brachte Nantilam eine ihrer Wachen dazu, neben sie zu treten.
»Ich bin keine Närrin«, verkündete Nantilam und behielt ihren Blick fest und ein wenig anklagend auf London gerichtet. »Wenn Ihr Eure Prinzessin zurückhaben wollt – sie wartet in Cokyri auf Euch. Aber ich habe einen Beweis für ihr Wohlergehen mitgebracht.«
Die Last zerschlagener Hoffnungen drückte schwer auf mein Gemüt, denn folglich würde es heute keinerlei Rettungseinsatz geben. Ich rang um meine Fassung, und nur das Versprechen der Hohepriesterin auf ein Lebenszeichen von Miranna hielt mich davon ab, zusammenzubrechen. Außerdem machte mir die Intensität, mit der Narian mich anstarrte, schwer zu schaffen.
»Was für einen Beweis?«, fragte London, und ich konnte an der Anspannung in der Haltung jedes Hytaniers um mich herum erkennen, dass diese Begegnung bereits jetzt keine günstige Wendung für uns nahm.
»Mein Leutnant hat hier einen Brief von Prinzessin Miranna an Eure Königin. Die Prinzessin war angewiesen, darin ihr Befinden kundzutun. Ich versichere Euch, dass sie das Schriftstück mit eigener Hand verfasst hat und es Einzelheiten enthält, die belegen, dass es erst gestern geschrieben wurde.«
Nantilams Untergebene machte mit einer kleinen Pergamentrolle in der Hand einige Schritte in unsere Richtung. Es herrschte Schweigen, während London die Hohepriesterin misstrauisch anstarrte, die darauf zu warten schien, dass sich ein Hytanier näherte.
»Ich bewundere Eure Vorsicht«, bemerkte Nantilam schließlich, als keiner von uns sich rührte. »Euer aller Vorsicht. Aber Ihr werdet im Dunkeln bleiben, wenn Ihr nicht lest, was auf diesem Pergament steht. Wenn Ihr es nicht holen wollt, London, dann vielleicht Euer Freund.« Ihre Augen wanderten kurz zu Destari, der in Londons Nähe stand, dann weiter zu Cannan. »Oder möglicherweise Euer Hauptmann?« Zuletzt richtete sie ihren Blick auf mich. »Oder wird gar Eure Königin vortreten müssen, wenn Ihr Männer alle
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