Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
sie uns schon verraten, wenn sie selbst es nicht finden konnte?«
Was könnte sie uns verraten? In dieser Bemerkung lag ein seltsames Echo, und ich ließ sie mir noch einmal durch den Kopf gehen. Wem hatte sie es verraten?
»Candles«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Candles. Sie könnte es Candles gesagt haben!« Und, verdammte Scheiße, ich wußte genau, wo es stand. Ich ergriff die Ausgabe von Gerüchte von der Erde, die ich als Ersatz für den gestohlenen Band gekauft hatte, und schlug ›Leisha‹ auf. »Es ist sogar nach ihr benannt«, sagte ich. »Hören Sie zu:
Verlorene Pilotin,
Sie fliegt ihren einsamen Orbit
Weit von Rigel,
Und sucht in der Nacht
Das Sternenrad.
Treibend in uralten Gewässern,
Bezeichnet es den langen Jahresverlauf
Neun am Rand,
Zwei an der Nabe.
Und sie,
Wandernd,
Kennt weder Hafen,
Noch Rast,
Noch mich.«
»Ich habe keine große Ahnung von Gedichten«, sagte Chase, »doch das hört sich ziemlich schlimm an.«
Ich ließ Jacob eine Aufstellung der Interpretationen und kritischen Arbeiten über das Gedicht anfertigen: Erörterungen der uralten mystischen Bedeutung der Zahl Neun (neun Monate bis zur Geburt eines Kindes, neun Knoten in der arabischen Liebespeitsche und so weiter) und die Diskussion der Yin/Yang-Bedeutung der Doppelsterne in der Nabe. Leisha tritt als symbolische Darstellung der Alles-Mutter in Erscheinung und trifft (anscheinend) nach dem Tod ihres gleichermaßen symbolischen Sohnes bei Rigel eine Art kosmische Anpassung. Der Held wird zum Menschen, verstrickt im Rad der Sterblichkeit.
Oder so ähnlich.
»Verdammt«, sagte Chase, »es ist eine Konstellation. Ist doch ganz klar.«
»Ja. Und ich glaube, wir haben die Antwort auf etwas anderes gefunden. Rashim Machesney hat Erfolg gehabt. Gabe hat die Datenbanken im Machesney-Institut gemeint! Sie müssen eine Suche für ihn durchgeführt haben!«
Ein leichtes Lächeln legte sich um Chase’ Mundwinkel.
»Was ist so komisch daran?«
»Quinda.«
»Was meinen Sie?«
»Als sie Ihre Ausgabe von Gerüchte von der Erde stahl, hielt sie die Antwort in Händen.«
Jacob traf einen Termin mit einem der Verwaltungsangestellten, und wir klinkten uns knapp eine Stunde später ein. Er war ein schmaler, sommersprossiger junger Mann mit einer langen Nase und einem Zittern in der Stimme. Er hatte die Schultern abwehrend vorgezogen und schien nicht imstande, auch nur eine meiner Fragen beantworten zu können, ohne zuerst auf seinen Monitor zu sehen. Er unternahm keine Anstalten, sich hinter seinem Schreibtisch zu erheben, um uns zu begrüßen, und verschanzte sich dahinter wie hinter einer Befestigung. »Nein«, sagte er, nachdem ich den Zweck unseres Besuchs erklärt hatte. »Ich bin mir nicht bewußt, daß wir ein besonderes Projekt für jemanden namens … äh … Benedict durchgeführt haben. Durch welchen unserer Kanäle soll es denn erfolgt sein?«
»Wie bitte?«
»Wir erhalten von zahlreichen Regierungen, Universitäten, Firmen und Stiftungen Forschungsgesuche. Welche Einrichtung wird Ihr Onkel benutzt haben?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich gar keine.«
»Wir nehmen keine Gesuche von Einzelpersonen an.« Er schien den Satz direkt von seinem Monitor abzulesen.
»Hören Sie«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie er es arrangiert hat. Aber es ist wichtig, und ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß er sich irgendwann einmal hier sehen gelassen hat. Irgend jemand hat mit ihm zusammengearbeitet.«
Der Verwaltungsangestellte tippte mit den Fingerspitzen auf die glatte Schreibtischoberfläche. »Das wäre ein grundlegender Verstoß gegen die Regeln, Mr. Benedict«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen.« Das war als Andeutung beabsichtigt, daß das Gespräch beendet sei.
»Mein Onkel ist vor kurzem gestorben«, sagte ich. »Ich bin hier, weil er mit der Arbeit, die Ihre Leute für ihn erledigt haben, sehr zufrieden war und er sich erkenntlich zeigen wollte.« Ich ließ ein beglückwünschendes Lächeln aufblitzen.
Der Gesichtsausdruck des Verwaltungsangestellten wurde weicher. »Ich verstehe«, sagte er. Vieles an dem Mann erinnerte mich an einen Vogel: seine Schmächtigkeit, die schnellen, oberflächlichen Bewegungen, das Gefühl, daß seine Aufmerksamkeit im Büro hin und her huschte und nie länger als ein paar Sekunden auf einer Sache ruhte.
»Leider hat mir mein Onkel nicht den Namen der Person genannt, die ihm geholfen hat, und ich habe keine direkte Möglichkeit, ihn
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