Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
Er stockte. »Er beschreibt ziemlich ausführlich die politische Lage.«
»Das sehe ich mir später an. Was schreibt er über die Tanner?«
»Am Abend, nachdem sie gehört hatten, daß die Stadt auf der Klippe gefallen war, beobachtete Candles eine Demonstration von Interventionisten auf dem Universitätsgelände. Doch er wahrte einen sicheren Abstand.«
Sie benutzten den vorderen Säulengang der Mensa als Bühne. Sieben oder acht Leute saßen dort oben; alle wirkten einigermaßen erzürnt, und alle schienen durchaus imstande zu sein, für eine gerechte Sache ein paar Kehlen durchzuschneiden. Marish Camandero hielt eine Rede. Sie ist die Vorsitzende der Soziologischen Fakultät, eine attraktive, asketische, ernsthafte Trau. Genau die Sorte Mensch, die man braucht, um Soziologie zu lehren.
Es hatten sich etwa zweihundert Demonstranten auf dem Platz versammelt. Das klingt vielleicht nicht nach vielen, aber sie waren sehr laut. Und aktiv. Sie hatten ihre eigene Musik mitgebracht, die hauptsächlich aus Krach und Geschrei bestand, und sie stießen und schoben sich ständig. Es hatte ein paar Auseinandersetzungen gegeben, ein junger Mann schien zu versuchen, mit einem Marbeerenstrauch zu kopulieren, und scheinbar überall standen Flaschen herum.
Die Camandero hielt eine Hetzrede gegen Stumme und Mörder und hatte die Menge ziemlich aufgepeitscht.
In all das begab sich Leisha. Offensichtlich hatte sie ihren gesunden Menschenverstand zu Hause gelassen. Sie näherte sich dem Ende dieses Mobs etwa zur selben Zeit, da die Camandero gerade die Bemerkung machte, die Geschichte sei übervoll mit den Leichen von Menschen, die nicht kämpfen wollten oder konnten.
Die Menge brüllte vor Zustimmung.
Sie fuhr auf diese Art fort, sagte, die Menschen würden die Köpfe in den Sand stecken und hoffen, daß die Stummen wieder verschwänden. »Jetzt ist die Zeit gekommen«, sagte sie, »Christopher Sim beizustehen.« Er griff seinen Namen auf und rief ihn himmelwärts, dieser hilflose Mob, dessen Welt über nicht mehr als ein paar wenige Kanonenboote verfügte.
Jemand erkannte Leisha und rief ihren Namen. Das erregte die Aufmerksamkeit der gesamten Menge, und der Lärm legte sich. Die Camandero sah sie direkt an. Leisha stand am Rand der Menge. Mit einem breiten Lächeln deutete die Camandero mit dem Zeigefinger in Leishas Richtung. »Doktor Tanner versteht die Stummen besser als wir «, sagte sie mit spöttischer Freundlichkeit. »Sie hat ihre Freunde schon zuvor öffentlich verteidigt. Ich glaube, vor nicht ganz einem Jahr hat sie uns noch versichert, daß dieser Tag niemals kommen würde. Vielleicht möchte sie uns sagen, was wir sonst noch nicht zu fürchten haben, nachdem die Stadt auf der Klippe gefallen ist?«
Die Menge hatte sie noch nicht ausfindig gemacht. Das war ihre Chance. Sie hätte von dort verschwinden können, doch statt dessen blieb sie stehen. Eine achtlose, gefährliche Tat in der häßlichen Stimmung dieser Nacht. Ein beredsamer Buchhalter hätte die Menge anstacheln können, die Hauptstadt in Brand zu setzen.
Leisha sah zu der Camandero hoch, blickte sich mit unverhüllter Verachtung um, zuckte die Achseln und schlenderte zum Säulengang weiter. Ich glaube, es war weniger ihr Verhalten selbst als das Achselzucken, das mich dermaßen beeindruckte. Die Menge trennte sich, um ihr Platz zu machen, doch jemand warf ein Bierglas in ihre Richtung.
Die Camandero hob mit einer friedlichen Geste die Arme und bat ihre Zuhörer um Besonnenheit und Großzügigkeit, selbst jenen gegenüber, denen es an Mut mangelte.
Leisha schritt mit königlicher Würde voran – es war herrlich anzusehen, aber auch erschreckend. Sie stieg die Stufen zur Plattform hinauf und stellte sich der Camandero. Der letzte Lärm der Menge verklang.
Ich hörte Stimmen im Wind, und am Himmel flogen einige Gleiter. Die Camandero war bei weitem die größere der beiden Frauen. Sie sahen einander an, und der Augenblick zog sich dahin. Dann löste die Camandero das Mikrofon von ihrem Hals und hielt es Leisha hin, so daß sie danach hätte greifen müssen.
Diese Bewegung löste das psychische Band auf, das zwischen ihnen bestanden haben mochte. »Sie haben recht«, sagte Leisha mit klarer und überraschend freundlicher Stimme, »wir haben gefährliche Zeiten.« Sie lächelte unschuldig und drehte sich zum Publikum um. Die Camandero ließ das Mikrofon auf die Plattform fallen. Dann ging sie von der Bühne und drängte sich durch die Menge, bis sie
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