Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
Abgesehen davon, daß er sich durchaus in körperlicher Gefahr befinden konnte – selbst die massiven Sicherheitskräfte, die die Bühne umgaben, konnten einen wirklich entschlossenen Attentäter kaum zurückhalten –, litt er anscheinend auch unter einem gewissen psychologischen Druck, der von der Anwesenheit von Menschen in großer Zahl herrührte. Ich nehme an, ich würde genauso empfinden, wenn ich annehmen müßte, daß mich eine große Menschenmenge tot sehen wollte.
Es wurden zahlreiche offizielle Reden über akademische Errungenschaften und helle Zukunftsaussichten gehalten. Und ich wunderte mich über die Selbstbeherrschung des Botschafters, der steif und aufrecht unter uns saß.
Ich fühlte mich in seiner Gegenwart unbehaglich. Wenn ich ganz ehrlich bin, muß ich eingestehen, daß ich das Wesen nicht besonders mochte und mir gewünscht hätte, es würde gehen. Ich weiß nicht, woran das lag. Ich glaube nicht, daß es etwas mit dem Krieg zu tun hat. Ich nehme an, wir werden uns immer unbehaglich fühlen, wenn wir es mit einer Intelligenz zu tun haben, die eine fremdartige Gestalt aufweist. Ich frage mich, ob nicht das die wirkliche Ursache für unsere Reaktion auf die Aliens ist, und weniger das Gefühl des geistigen Aushorchens, dem sie normalerweise immer zugeschrieben wird.
Die Universität hatte Leisha gebeten, als Übersetzerin zu fungieren. Das hieß, daß sie die Rede des Außerirdischen vortragen sollte. All ihre Bekannten rieten ihr strikt davon ab, und ein paar machten ihr sogar klar, daß man ihre Bereitschaft als Verrat auffassen könnte und sie, falls Leisha darauf bestehen sollte, dafür sorgen würden, daß sie dafür zu bezahlen hätte. Manchmal vergessen wir, wer der Feind ist.
Ich hätte ihr gern gesagt, daß sie auf die Freundschaft derer, die sie auf diese Art bedrohten, leicht verzichten könnte. Doch dem war leider nicht so. Cantor befand sich darunter. Und Lyn Quen. Und ein junger Mann, von dem ich annahm, daß Leisha ihn liebte.
Egal. Als die Zeit kam, stand sie dort oben neben dem Botschafter und sah so gelassen und hübsch aus wie eh und je. Sie ist eine tolle Frau, Connie. Ich wünschte, ich wäre jünger.
Tarien Sim war natürlich auch da, eine eindrucksvolle Gestalt unter den Würdenträgern. Er war zu einer Person solch unglaublicher politischer Bedeutung geworden, daß man von seiner körperlichen Erscheinung unwillkürlich enttäuscht ist. Und doch – er strahlt eine Aura der Größe aus, die man ganz deutlich sehen und fühlen kann. Das Licht fängt sich in seinen Augen, wenn du weißt, was ich meine.
Die Rede, die er halten sollte, war der eigentliche Grund für die Anwesenheit des Botschafters. Die Ashiyyur verlangten die gleiche Redezeit. Doch ich wußte, daß das ein Fehler war. Der Gegensatz zwischen Tarien, einer Vaterfigur mit hellrotem Bart und einer Stimme, die zur Revolution aufruft, und der stummen, unheimlichen, steifen Gestalt des Alien hätte nicht größer sein können.
Es waren über vierhundert Doktoranden anwesend, jene eingerechnet, die einen höheren Abschluß gemacht hatten. Sie saßen in Reihen auf dem Morien-Feld, auf dem Studenten seit fast vier Jahrhunderten Reden zur Feier der Verleihung akademischer Grade gelauscht hatten. Hinter ihnen drängten sich Zuschauer – viel mehr, als ich im Lauf der Jahre, seit ich an ähnlichen Anlässen teilnehme, jemals gesehen habe – auf den Sitzplätzen und hatten sogar noch die dahinterliegenden Sportplätze vereinnahmt. Die Presse war zahlreich vertreten. Und es hatte sich ein Heer von Sicherheitskräften eingefunden. Die der Universität wurden durch die städtische Polizei verstärkt und durch mehrere Dutzend Agenten der einen oder anderen Regierungsbehörde, die man unwillkürlich an ihren verkniffenen Gesichtern erkannte.
Es war ein hektischer Nachmittag. Alle warteten darauf, daß etwas passierte, wollten unbedingt dabeisein, hatten vielleicht aber etwas Angst, darin verwickelt zu werden.
Die Sprecher der Studentenschaft sagten, was Studenten zu solchen Anlässen immer sagen, und ihre Reden wurden mit höflichem Applaus bedacht. Dann erhob sich Präsident Hendrik, um Sim vorzustellen. Wie ich gehört habe, gab es zwischen der Universität und der Regierung über die Reihenfolge der Redner ein paar Meinungsverschiedenheiten. Hendrik wollte Sim das letzte Wort geben, um damit öffentlich zu demonstrieren, daß er die Anwesenheit des Botschafters genausowenig billigte wie der Rest des Mobs. Doch
Weitere Kostenlose Bücher