Alex Benedict 01: Die Legende von Christopher Sim
bei Parrinis Tod uralt gewesen waren, und Rechnungen über Möbel, Kunstwerke, Bücher, Kleidung, einen Gleiter. Und so weiter.
»Da muß noch mehr sein«, sagte Chase, nachdem wir unsere Stirnbänder abgenommen und uns über ein warmes Mittagessen hergemacht hatten. »Wir haben nicht an der richtigen Stelle gesucht. Parrini kann einfach nicht das Material für den ersten Band zusammengetragen haben, ohne gleichzeitig beträchtliche Materialmengen für die Folgebände zu sammeln.«
Ich pflichtete ihr bei und schlug vor, daß wir zuerst in der Fakultät für Literatur danach suchen sollten.
Als wir mit dem Essen fertig waren, hatte Jacob den Kode für uns bereit, und wir klinkten uns in ein schäbiges Büro mit heruntergekommenem Mobiliar und zwei gelangweilt wirkenden jungen Männern ein, die vor alten Terminals lungerten, die Füße hochgelegt und die Hände hinter den Köpfen verschränkt hatten. Einer war äußerst groß, über zwei Meter. Der andere war von durchschnittlicher Größe, mit klaren, freundlichen Augen und strohfarbigem Haar. Auf einem Bildschirm rollten mit hoher Geschwindigkeit Textblöcke ab, doch keiner der beiden schien ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
»Ja?« fragte der Kleinere und richtete sich etwas auf. »Kann ich Ihnen helfen?« Eigentlich richtete er die Frage nur an Chase.
»Wir betreiben Forschungen über Charles Parrini«, sagte sie, »und interessieren uns besonders für seine Werke über Walford Candles.«
»Parrini ist ein Schundschreiber«, sagte der andere, ohne sich zu rühren. »Schambly ist viel besser, was Candles betrifft. Oder Koestler. Verdammt, fast alle sind besser als Parrini.«
Der Mann, der zuerst gesprochen hatte, runzelte die Stirn und stellte sich vor. »Korman«, sagte er. »Vorname Jak. Das ist Thaxter.« Thaxters Lippen öffneten sich leicht. »Was brauchen Sie?« fragte er, noch immer an Chase gewandt. Seine Augen tasteten langsam ihren Körper ab. Er machte einen zufriedenen Eindruck.
»Kennen Sie seine Übersetzung von Tulisofala ?« fragte ich. »Warum hat er sie Leisha Tanner gewidmet?«
Korman lächelte; anscheinend war er beeindruckt. »Weil«, sagte er und sah zum erstenmal in meine Richtung, »sie den ersten ernsthaften Versuch unternommen hat, ashiyyurische Literatur zu übersetzen. Natürlich wird sie heutzutage kaum noch gelesen. Die Moderne hat sie weit hinter sich gelassen. Doch sie hat den Weg bereitet.«
Chase nickte auf ihre beste akademische Art. »Haben Sie seine Arbeiten über Wally Candles gelesen?« fragte sie. Ihre Betonung war etwas schärfer als üblich. »Die Briefe ?«
Thaxter legte den Fuß in eine geöffnete Schublade und schob sie vor und zurück. »Ich weiß davon«, sagte er.
»Es sollte weitere Bände geben. Sind sie jemals vollendet worden?«
»Wie ich mich erinnere«, sagte Thaxter, »ist er während des Projekts gestorben.«
»Das stimmt.« Chase sah von dem einen zum anderen. »Hat jemand beendet, was er anfing?«
»Ich glaube nicht.« Thaxter dehnte die Worte so nachdenklich, daß man deutlich mitbekam, daß er nicht die geringste Ahnung hatte. Er versuchte es mit einem zaghaften Lächeln, bekam von Chase eine ermutigende Erwiderung und wandte sich seinem Computer zu. »Nein«, sagte er nach einer Weile. »Nur der erste Band. Danach nichts mehr.«
»Dr. Thaxter«, sagte ich, ihm einen Titel verleihend, von dem ich bezweifelte, daß er ihn trug, »was ist nach Perrinis Tod mit seinen Aufzeichnungen geschehen?«
»Da müßte ich nachsehen.«
»Würden Sie das tun?« fragte Chase. »Es würde uns sehr helfen.«
Thaxter bequemte sich dazu, sich aufzusetzen. »Na schön, ich will’s versuchen. Wo kann ich Sie finden?« Er schien mit Chase’ Gestik zu sprechen.
»Hätten Sie heute abend vielleicht die Antwort?«
»Schon möglich.«
»Dann werde ich zurückkommen«, lächelte Chase.
Nach seinem Tod waren Charles Parrinis Unterlagen an Adrian Monck weitergegeben worden, mit dem er häufig zusammengearbeitet hatte. Neben anderen Projekten sollte Monck den zweiten und dritten Band von Candles’ Briefen zusammenstellen. Doch er hatte an dem nun in Vergessenheit geratenen historischen Roman Maurina gearbeitet, einer epischen Nacherzählung der Ära des Widerstands, gesehen durch die Augen von Christopher Sims junger Frau. Er lebte nicht lange genug, um weder den Roman noch die Briefsammlung abzuschließen, und Maurina wurde von seiner Tochter vollendet. Parrinis Unterlagen stiftete sie
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