Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
sauren Apfel beißen musste, aber ich konnte nichts dagegen tun.
Es war ein sengend heißer Tag; die Sonne brannte gnadenlos auf die Stadt hinunter. Auf der Fahrt waren wir beide schweigsam und in uns gekehrt. Was wir jetzt zu tun hatten, war ein Scheißspiel. Wir mussten einer Familie den Tod eines geliebten Angehörigen mitteilen. Ich wusste nicht, wie ich es diesmal schaffen sollte.
Nina wohnte in einem gepflegten Apartmenthaus aus braunen Backsteinen an der Monroe Street. Gelbe Miniaturrosen blühten in den leuchtend grünen Balkonkästen vor den Fenstern. Es sah so aus, als könne den Bewohnern niemals irgendetwas Schlimmes zustoßen. Alles an diesem Haus war strahlend und hoffnungsfroh, genau so, wie Nina gewesen war.
Mittlerweile rebellierte alles in meinem Innern, nicht nur wegen des pervers-brutalen Mordes, sondern auch deshalb, weil das Dezernat wahrscheinlich keine ordentliche Ermittlung vornehmen würde – zumindest keine offizielle. Nana Mama würde die Sache in ihre Verschwörungstheorien über die weißen Übermenschen und deren »kriminelles Desinteresse« an den Leuten im Southeast einreihen. Oft hatte sie mir erklärt, sie würde sich den Weißen moralisch überlegen fühlen und sie auf keinen Fall so mies behandeln, wie sie die Schwarzen Washingtons behandelten.
»Ninas Schwester, Marie, versorgt die Kinder«, sagte Sampson, als wir die Monroe Street entlangfuhren. »Sie ist ein nettes Mädchen. Hatte mal ein Drogenproblem, ist jetzt aber clean. Nina hat ihr geholfen. Die ganze Familie hält zusammen wie Pech und Schwefel. So ähnlich wie deine. Das wird jetzt schlimm, Alex.«
Ich blickte Sampson an. Es verwunderte mich nicht, dass Ninas Tod ihn noch härter getroffen hatte als mich. Aber dass er Gefühle zeigt, ist bei ihm sehr ungewöhnlich. »Ich mach das, John. Bleib du im Wagen. Ich gehe rauf und rede mit der Familie.«
Sampson schüttelte den Kopf und seufzte laut. »Nein, so läuft das nicht, Süßer.«
Er lenkte den Nissan an die Bordsteinkante, und wir stiegen aus. Er hielt mich nicht davon ab, mit zur Wohnung zu gehen, deshalb wusste ich, dass er mich dabeihaben wollte. Er hatte Recht. Es wurde tatsächlich schlimm.
Die Childs bewohnten das Erdgeschoss und den ersten Stock. Die Eingangstür war aus Aluminium und verziert. Ninas Mann war schon an der Tür. Er trug die Arbeitsklamotten eines Mitarbeiters vom Bauamt Washington: lehmverschmierte Stiefel, blaue Hose und ein Hemd mit dem Kürzel der Behörde. Er trug ein Baby in der Armbeuge, ein wunderhübsches kleines Mädchen, das mich anschaute, lächelte und gurrte.
»Dürfen wir einen Moment reinkommen?«, fragte Sampson.
»Es geht um Nina«, sagte der Mann und brach auf der Türschwelle in Tränen aus.
»Ja, William. Es tut mir leid«, sagte ich leise. »Man hat sie heute Morgen gefunden. Sie ist tot.«
William Childs begann laut zu schluchzen. Er war ein robust und kräftig aussehender Bursche, aber das half ihm jetzt einen Dreck. Er drückte sein verwirrt dreinschauendes kleines Mädchen an die Brust und bemühte sich, sein Weinen zu unterdrücken, schaffte es aber nicht.
»O Gott, nein. Nina, Nina, Baby … Wie konnte jemand sie umbringen? Wie kann jemand so etwas tun? Nein, Nina, Nina, Nina .«
Hinter ihm tauchte eine hübsche junge Frau auf. Das musste Ninas Schwester Marie sein. Sie nahm ihrem Schwager das Baby ab. Die Kleine fing zu weinen an, als wüsste sie, was geschehen war. Ich hatte so etwas bei sehr vielen Familien gesehen, bei sehr vielen guten Menschen, die auf diesen gnadenlosen Straßen geliebte Angehörige verloren hatten. Es würde nie ganz aufhören, das wusste ich, aber ich war der Meinung gewesen, es wäre ein bisschen besser geworden. Aber es war einen Scheißdreck.
Die Schwester bat uns einzutreten. Im Flur fielen mir die beiden Handtaschen auf, die auf dem kleinen Tisch lagen, als wäre Nina noch da. Die Wohnung wirkte gemütlich und sauber. Helle Bambusmöbel mit weißen Kissen. Die Klimaanlage im Fenster surrte. Die Llardo-Porzellanfigur einer Krankenschwester stand auf dem Tischchen neben der Couch.
In Gedanken beschäftigte ich mich immer noch mit dem Tatort und bestimmten Einzelheiten und bemühte mich, diese Tat mit den Morden an den anderen Jane Namenlos in Verbindung zu bringen. Wir erfuhren, dass Nina am Samstagabend ein Wohltätigkeitsessen besuchen wollte, dessen Erlös einem Gesundheitszentrum zugute kam. William hatte Überstunden gemacht. Am späten Samstagabend hatte die Familie
Weitere Kostenlose Bücher