Alex Cross 05 - Wer Hat Angst Vorm Schattenmann
auf etwas anderes zu richten, bis ich die Fassung halbwegs wieder erlangt hatte.
Jerome Thurman war mit der Spurensicherung da. Ebenso ein Streifenpolizist, wahrscheinlich der Mann, der Nina identifiziert hatte. Kein Polizeiarzt. Es war nicht ungewöhnlich, dass bei Morden im Southeast kein Polizeiarzt erschien.
Auf dem Boden bei der Leiche lagen verwelkte Blumen. Ich konzentrierte mich auf diese Blumen, weil ich immer noch nicht imstande war, Nina anzuschauen. Die Blumen passten nicht in das Muster der anderen Jane-Namenlos-Fälle; andererseits folgte der Killer keinem bestimmten Schema. Das war eines der Probleme, mit denen ich es zu tun hatte. Es konnte bedeuten, dass die Fantasievorstellungen des Mörders sich noch immer weiterentwickelten – und dass er seine grauenvolle Geschichte noch längst nicht zu Ende gedacht hatte.
Mir fielen das Zellophan und die Folienfetzen auf, die überall auf dem Boden lagen. Ratten fühlten sich oft von glänzenden Dingen angezogen und schleppten sie in ihre Nester. Dicke Spinnweben zogen sich von einer Seite des Kellers zur anderen.
Ich musste wieder Nina anschauen, musste sie aus der Nähe betrachten.
»Ich bin Detective Alex Cross. Bitte, lassen Sie mich einen Blick auf die Tote werfen«, sagte ich zu dem Mann und der Frau von der Spurensicherung, beide Mitte zwanzig. »Dauert nur einen Augenblick, dann können Sie in Ruhe Ihren Job weitermachen.«
»Die anderen Detectives haben die Leiche schon freigegeben«, sagte der Mann von der Spurensicherung. Er war spindeldürr und hatte langes schmutzig blondes Haar. »Lassen Sie uns die Arbeit zu Ende führen, damit wir möglichst schnell aus dieser Dreckshöhle abhauen können. Die ganze Bude ist verseucht wie ‘n Rattenloch und stinkt wie ein Misthaufen.«
»Mach Platz«, fuhr Sampson den Burschen an. »Na los, ehe ich dich an deinem dürren Arsch hochziehe.«
Der Spurensicherungstechniker fluchte, stand aber auf und entfernte sich ein paar Schritte von Ninas Leiche. Ich ging näher und bemühte mich um Konzentration und professionelles Verhalten. Ich rief mir möglichst viele spezifische Details ins Gedächtnis, die ich bei den vorangegangenen Jane-Namenlos-Fällen im Southeast gesammelt hatte. Ich suchte nach einer Verbindung. Ich fragte mich, ob ein einzelner Mörder so viele Menschen töten konnte. Wenn das der Fall war, hatten wir es mit einer der brutalsten Mordserien aller Zeiten zu tun.
Ich holte tief Luft und kniete neben Nina nieder. Die Ratten hatten ihr bereits einen Besuch abgestattet, wie ich sehen konnte, aber der Täter hatte weitaus größeren Schaden angerichtet.
Es sah so aus, als hätte man Nina mit Faustschlägen und Tritten zu Tode geprügelt. Möglicherweise war sie mehr als hundertmal geschlagen und getreten worden. Ich hatte selten jemanden gesehen, der so grausam misshandelt worden war.
Warum hatte das geschehen müssen? Du lieber Himmel, Nina war erst einunddreißig, Mutter zweier Kinder, liebenswürdig und begabt, und sie ging ganz in ihrer Arbeit am St. Anthony’s-Krankenhaus auf.
Plötzlich ertönte ein Knall im Haus, laut und dröhnend wie ein Gewehrschuss. Er hallte durch die Kellergänge. Das Paar von der Spurensicherung zuckte heftig zusammen.
Wir anderen lachten nervös. Ich wusste genau, was für ein Knall das gewesen war.
»Sind bloß Rattenfallen«, erklärte ich den Spurensicherungstechnikern. »Daran müsst ihr euch gewöhnen.«
I ch blieb etwas länger als zwei Stunden am Tatort, länger, als ich gewollt hatte. Und ich hasste jede Sekunde. Wie gesagt, konnte ich kein bestimmtes Muster bei den Jane-Namenlos-Morden erkennen, und auch der Mord an Nina Childs half da nicht weiter. Warum hatte der Täter sie so oft und so brutal geschlagen und getreten? Was bedeuteten die Blumen? Konnte es das Werk desselben Killers sein?
Normalerweise gehe ich am Tatort so vor, dass ich bei der Untersuchung eines Mordes eine Perspektive einnehme wie bei einer Luftaufnahme. Alles strahlt von der Leiche aus.
Sampson und ich schritten den gesamten Tatort ab, gingen vom Keller in jedes Stockwerk bis aufs Dach. Anschließend suchten wir die benachbarten Häuser auf und hörten uns bei den Bewohnern um. Doch niemand hatte etwas Ungewöhnliches gesehen, was keine Überraschung für uns war.
Dann kam der wirklich schlimme Teil. Sampson und ich fuhren von der Bruchbude zu Ninas Wohnung in Brookland, einem Viertel Washingtons östlich der Katholischen Universität.
Mir war klar, dass ich wieder in den
Weitere Kostenlose Bücher