Alex Cross 07 - Stunde der Rache
so neu und so abgrundtief übel.«
Er nickte. »Ich meinte nicht heute, sondern ganz allgemein. Raus mit der Sprache. Wie, zum Teufel, kommst du zurecht? Du wirkst verspannt. Das haben wir alle bemerkt, Alex. Du leistest keine freiwilligen Hilfsdienste bei Saint Anthony's mehr. Lauter solche Kleinigkeiten.«
Ich schaute ihn an, direkt in seine durchdringenden braunen Augen. Kyle war ein Freund, aber auch ein berechnender Kerl. Er wollte etwas. Was? Welche Gedanken gingen durch seinen Kopf?
»Unterm Strich: ich bin total im Arsch. Nein, alles ist bestens. Ich bin glücklich, dass die Kinder sich so gut entwickeln. Klein-Alex ist die beste Medizin gegen alles. Damon und Jannie machen sich prima. Natürlich vermisse ich Christine, ja, sie fehlt mir sehr. Mir liegt schwer im Magen, dass ich so viel Zeit damit verbringe, die widerlichsten Verbrechen zu ermitteln, die man sich vorstellen kann. Ansonsten geht es mir gut.« »Du bist so begehrt, weil du gut bist. Das ist der Punkt. Deine Instinkte, dein emotioneller IQ – irgendwas unterscheidet
dich von anderen Bullen«, sagte Kyle.
»Vielleicht möchte ich gern weniger gut sein. Vielleicht bin ich es auch gar nicht. Die Mordfälle haben jeden Aspekt meines Lebens beeinflusst. Ich habe Angst, dass sie mein ganzes Sein verändern. Übrigens, sag mal, im Fall Betsey Cavalierre? Da muss es doch was Neues geben.«
Kyle schüttelte den Kopf. Ich las die Sorge in seinen Augen. »Nichts, Alex. Es gibt absolut nichts Neues in diesem Mordfall. Auch nichts über Superhirn. Ruft dieser Scheißkerl dich immer noch zu jeder Tages- und Nachtzeit an?«
»Ja. Aber er erwähnt Betsey und den Mord an ihr nicht mehr.«
»Wir könnten bei deinen Telefonen noch mal eine Fangschaltung anbringen.« »Das würde auch nichts nützen.«
Kyle schaute mir immer noch tief in die Augen. Ich spürte, dass er sich Sorgen machte, aber bei ihm wusste man nie genau, woran man war. »Glaubst du, dass er dich beobachtet? Dich beschattet?«
Ich schüttelte den Kopf. »Manchmal habe ich das Gefühl, ja. Aber ich will dich was fragen, da du gerade hier bist. Warum zerrst du mich immer in diese total beschissenen Fälle hinein, Kyle? Wir haben gemeinsam am Fall Casanova unten in Durham gearbeitet, dann die Entführung von Dunne und Goldberg, die Banküberfälle. Und jetzt dieses Stück Scheiße.«
Kyle nahm kein Blatt vor den Mund. »Du bist der Beste, den ich kenne, Alex. Deine Instinkte treffen fast immer ins Schwarze. Für Ermittlungen bist du einfach Spitze. Manchmal löst du den Fall, manchmal auch nicht, aber du bist immer ganz nahe dran. Warum kommst du nicht zu uns, zum FBI? Ich meine das ernst. Ja, das ist ein Angebot.«
Das war Kyles Punkt auf der Tagesordnung dieser Besprechung. Er wollte mich bei sich in Quantico.
Ich lachte schallend. Gleich darauf lachte er auch. »Das An
gebot steht, ganz gleich, ob du hier gewinnst oder verlierst. Ich möchte, dass du nach Quantico kommst und eng mit mir zusammenarbeitest. Nichts würde mich glücklicher machen.«
26
D as war eine prima Gelegenheit. Besser als William und Michael erwartet – oder erhofft hatten. Die beiden folgten den beiden Superbullen vom Revier in Brentwood. Sie hielten in ihrem Van genügend Abstand. Eigentlich war es den Brüdern egal, ob sie sie verloren. Sie wussten, in welchem Hotel sie wohnten und wie sie sie jederzeit finden konnten. Sie kannten sogar die Namen.
Kyle Craig, FBI. Ein Bulle aus Quantico. Ein Mann für »Große Fälle«. Einer der Besten beim FBI.
Alex Cross, Polizeidepartment Washington. Forensischer Starpsychologe.
Es gab einen Spruch, den William den beiden gern in die Ohren geflüstert hätte: Wenn du Vampire jagst, jagen die Vampire dich.
Das war die Wahrheit, aber es klang zu sehr wie eine Regel. Und William hasste Regeln abgrundtief. Regeln machten dich berechenbar, weniger individuell. Regeln machten dich weniger frei, weniger authentisch, weniger du selbst. Und letztendlich konnten Regeln dazu führen, dass du erwischt wurdest. William trat probeweise auf das Bremspedal. Vielleicht sollten wir die beiden Bullen nicht jagen und wie Hunde umbringen, dachte er. Möglich, dass es viel bessere Dinge gab, die sie tun konnten, während sie in L.A. waren.
Es gab einen ganz bestimmten Ort hier, den er und Michael oft besuchten: Die Kirche der Vampire, und sie war für diejenigen, »welche nach dem Drachen in ihrem Innern suchten«. Es war tatsächlich eine Kirche: riesig, mit hoher Decke, altem
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