Alex Cross 07 - Stunde der Rache
wir ihm ins Hotelzimmer. Eigentlich war es eine Art Bungalow am Hang: zwei Schlafzimmer, ein Wohnraum mit Kamin. Es hatte von der Straße her einen eigenen Privateingang.
Der Tatort war so deprimierend schlimm wie die anderen.
Ich erinnerte mich an besonders deprimierende Worte eines Philosophen. Bei einem extrem grauenvollen Mord in North Carolina hatte ich den gleichen Gedanken. »Die menschliche Existenz muss eine Art Irrtum sein. Heute ist es schlimm, jeden Tag wird es schlimmer, bis das Allerschlimmste geschieht.« Meine eigene Philosophie war etwas fröhlicher als Schopenhauers, aber es gab Zeiten, da schien er Recht zu haben. Das Allerschlimmste war einem neunundzwanzigjährigen Leitenden Angestellten bei einer Schallplattenfirma zugestoßen, der Jonathan Mueller hieß, und auf die allerschlimmste Weise. An seinem Hals waren Bisswunden. Ich sah keine Messerstiche. Man hatte Mueller an einer Deckenbeleuchtung im Hotelzimmer aufgehängt. Seine Haut war wächsern und beinahe durchsichtig. Meiner Meinung nach war er noch nicht lange tot.
Wir drei gingen näher an den hängenden Leichnam heran. Er schwang ein wenig hin und her. Blut tropfte noch heraus. »Die größten Bisswunden sind am Hals«, sagte ich. »Sieht wieder wie das Rollenspiel der Vampire aus. Das Aufhängen muss ihr Ritual sein, vielleicht ihre Unterschrift.«
»Das ist so gottverdammt unheimlich«, flüsterte Jamilla. »Diesem armen Kerl hat man das Blut herausgesaugt. Es sieht fast wie ein Sexualverbrechen aus.«
»Ich glaube, dass es eines ist«, erklärte Kyle. »Meiner Meinung haben sie ihn zuvor verführt.«
In diesem Moment klingelte das Handy in meiner Jackentasche. Der Zeitpunkt hätte nicht schlimmer sein können.
Ich blickte Kyle an, ehe ich mich meldete. »Das könnte er
sein. Das Superhirn«, sagte ich.
Dann legte ich das Handy ans Ohr.
»Wie gefällt dir Los Angeles, Alex?«, fragte das Superhirn in seinem üblichen mechanischen Tonfall. »Die Toten sehen überall ziemlich ähnlich aus, richtig?«
Ich nickte Kyle zu. Er kapierte sofort, wer am Telefon war. Das Superhirn.
Er bedeutete mir, ihm das Handy zu geben. Ich reichte es ihm. Ich beobachtete sein Gesicht, während er zuhörte. Er runzelte die Stirn. Kyle ließ das Handy sinken.
»Er hat die Verbindung abgebrochen«, sagte er. »Es war, als
wüsste er genau, dass du nicht mehr dran warst. Wie kann er das wissen, Alex? Wieso weiß dieser Mistkerl so viel? Was, zum Teufel, will er von dir?«
Ich starrte auf die sich langsam drehende Leiche. Ich hatte keine Antworten. Überhaupt keine. Ich fühlte mich selbst wie ausgesaugt.
23
E s war bereits Freitag, und wir steckten inmitten einer widerlichen Sauerei, die noch lange nicht vorüber sein würde. Am Nachmittag musste ich einen unangenehmen Anruf nach Washington erledigen. Nana-Mama antwortete nach mehrmaligem Klingeln. Sofort wünschte ich, dass eines der Kinder statt ihrer abgenommen hätte. »Hier Alex. Wie geht's dir?«
»Aha, du kommst also morgen nicht nach Hause zu Damons Konzert, richtig? Oder hast du das Konzert schon vergessen? Ach, Alex, Alex. Warum hast du uns verlassen? Das ist nicht richtig.«
Ich liebe Nana ungemein, aber manchmal übertreibt sie maßlos, um ihren Standpunkt klar zu machen. »Warum rufst du mir nicht Damon ans Telefon?«, sagte ich. »Ich rede lieber mit ihm darüber.«
»Er ist nicht mehr lange ein kleiner Junge. Schon bald ist er genau wie du und hört auf niemanden. Dann wirst du sehen, wie das ist. Und ich garantiere dir, dass dir das ganz und gar nicht gefallen wird«, belehrte sie mich.
»Ich habe jetzt schon ein furchtbar schlechtes Gewissen. Du musst nicht Salz in die Wunden streuen, Alte.«
»Doch, das muss ich. Das ist meine Aufgabe. Und ich nehme diese genauso ernst wie du deine«, sagte sie.
»Nana, Menschen sterben hier draußen. In Washington ist jemand einen grauenvollen Tod gestorben, um mich in diesen Fall zu verwickeln. Es geht immer weiter. Ich muss eine Verbindung finden – oder es zumindest versuchen.«
»Ja, Alex, Menschen sterben. Das verstehe ich. Und andere Menschen wachsen ohne ihren Vater auf, obwohl sie ihn dringend brauchen – besonders da sie keine Mutter haben. Bist du dir dessen bewusst? Ich kann für diese Kinder nicht Vater und Mutter sein.«
Ich schloss die Augen. »Ich verstehe, was du sagst. Ich kann dir nicht mal widersprechen. Aber würdest du jetzt bitte Damon ans Telefon rufen?«, bat ich noch mal. »Gleich nach dem Anruf gehe ich hinaus
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